Ein Lochthofen – mal ganz anders (Rückblick auf einen Talk im Schlachthof)

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Ein Russe übernimmt die Chefredaktion einer großen deutschen Tageszeitung. Heutzutage Stoff für Verschwörungstheorien. Aber im Januar 1990 ist Wladimir Putin noch KGB-Offizier in Dresden und Sergej Lochthofen der neue Chefredakteur vom „Volk“. Selbst, dass er der erste und wohl auch letzte frei gewählte Chefredakteur einer SED-Bezirkszeitung ist, ist kaum des Bemerkens wert. Schließlich erodiert gerade nicht nur der erste deutsche Arbeiter- und Bauernstaat im rasenden Tempo. Die halbe Welt, der ganze Ostblock gerät aus den Fugen.

Ein Beitrag von Rainer Aschenbrenner

27 Jahre später. Sergej Lochthofen ist Gast beim „Talk im Schlachthof“. Seit Juni 2015 gibt es diese kleine, feine Gesprächsreihe im „Londoner“ zu Gotha, die Ober-„Oscar“ Maik Schulz moderiert. Ex-SPIEGEL-Mann Erich Böhme und dessen legendärer „Talk im Turm“, der in den 1990er-Jahren ein echter Straßenfeger war, lassen grüßen.

Nun nicht gerade vor einem Millionenpublikum, aber mit gut 70 aufmerksamen, wohlwollenden Leuten gibt es Schulz und Lochthofen („…bin richtig gerührt, dass sich so viele interessieren“). Passt aber bestens. Nicht nur, weil der Ex-Volontär der „Thüringer Allgemeinen“ seinen Ex-Chefredakteur interviewt. Sondern auch, weil der zur Residenzstadt ein besonderes Verhältnis hat.

Schließlich kommt seine Familie 1958 aus der Sowjetunion hierher. Geboren ist Lochthofen in Workuta – weil unter Stalin sein Vater, der 1930 in die Sowjetunion ging, in den dortigen Gulag kam. Deshalb heißt Sergej auch nicht Erich, wie zunächst geplant, „sonst hätte ich da jeden Tag den Hitler machen müssen“.

Nun also DDR. Ebenso tief im Osten – zumindest von Gotha. Hier lernt Sergej von den Kindern rings um die Reuterstraße, wo Lochthofens wohnen, schnell die zunächst völlig unbekannte, fremde Sprache: „Ich bin erstaunt, dass ich diesen besonderen Dialekt nie angenommen habe.“

Geht dann als Russe auf die Russenschule nach Ohrdruf. Jene Stadt, in der ein Vielfaches mehr an sowjetischen Soldaten als DDR-Bürger leben und deshalb „Klein Moskau“ heißt. Im Schloss Ehrenstein steht Sergejs Schulbank, die er sich als einziges „Zivilistenkind“ mit jenen der Offiziere teilt. Später ist das Schloss Offiziersunterkunft, verfällt. 2013 macht der Ehrenstein Schlagzeilen, als er beinahe niederbrennt.

Sichtlich amüsiert erzählt der altersmilde über den halbstarken Lochthofen und dessen „pyromanische Veranlagung“. Über besondere Knalleffekte bei der Waldbahn in Sundhausen. Dann, wenn Sergej und seine Kompagnons 7,62er Patronen für die Kalaschnikow auf die Gleise der Tram platzierten. Beim Stichwort „Waldbahn“ ist er plötzlich im Heute: „Da war doch so ein komischer Mensch, der die abschaffen wollte?!?“

Sein Plädoyer für die Traditionsbahn mündet in der eindringlichen Mahnung an die Gothaer: „Passen Sie auf, dass Sie Ihr Orchester nicht verlieren!“ Während das nun schon seit 27 Jahren allem Unbill trotzte, verschwand etwas anderes – Schinkels Theater. Der fünfjährige Sergej sah dessen Ruine noch. Gothaer sammelten fast 50.000 Mark für den Wiederaufbau. Dies wollte selbst eine Kommission aus Berlin. Doch lokale Parteifürsten ließen Dynamit vollendete Tatsachen schaffen. „Die Stadt wäre mit einem Theater eine andere geworden“, ist Lochthofen sicher. „Ein solches Theater zieht besondere Geister an, es schafft eine ganz andere Atmosphäre …“ Doch auch in den 1990er-Jahren habe die Stadt „ viel verloren“, bedauert er. Deshalb lobt Lochthofen OB Knut Kreuch: „Es ist gut, dass sich da einer mit viel Energie engagiert.“

Die sehr persönliche Sicht auf diese Stadt hinterlässt Eindruck beim Publikum. Nicht zuletzt, weil die Mehrheit jenes Alters ist, um Lochthofens Erinnerungen teilen zu können.

Aber natürlich kam auch der Journalist, der Chefredakteur Lochthofen zu Wort. Doch während er bei seinen privaten Erinnerungen eher unerwartet emotional und zuweilen zurückhaltend wirkte, war er hier wieder in seinem Element: Scharfzüngig, pointiert und mit einem gar nicht kleinen Selbstbewusstsein machte er schlaglichtartig klar, warum die „Thüringer Allgemeine“ zu seinen Zeiten als eine der besten deutschen Tageszeitungen galt.

Was Rang und Namen hatte, saß deshalb irgendwann in Bindersleben zum Interview. Mancher, der versucht war, sich der TA und seiner Redaktion zu bedienen, erlebte sein „weißss Wunder“: So wie ein Staatsminister namens Schwanitz unter Kanzler Schröder. Der wollte das TA-Interview im Nachgang auf seine Linie trimmen. Lochthofen ließ auf Seite 2 die vorgesehene Fläche für den Text unbedruckt – bis auf den Hinweis darauf, warum dies so war. Das machte diese Leerstelle vielsagender als jedes der geschönten Schwanitz-Worte.

Lochthofen liebte es unkonventionell. Hatte er Ideen – und die waren meist gut! – dann gab es kein Vertun oder lange Wehen von Arbeitskreisen. Simon, resp. Sergej, sagte – und alle machten. Mussten machen. Formatfüllende Fotos auf dem Titelblatt, eine Wochenendausgabe, die von der ersten Seite bis zur letzten (Lokal-)Seite ein Thema erzählte … Solche Aktionen brachten nicht selten die ganze Redaktion in Aufruhr und aus dem liebgewordenen „Haben wir immer schon so gemacht“-Trott.

Aber das Produkt – und damit die Dividende für die Eigner, die WAZ-Gruppe in Essen – stimmte. Deshalb konnte sich Lochthofen austoben, wurde u. a. zur „Stimme Ostdeutschlands“ im sonntäglichen ARD-„Presseclub“.

Bis 2009. Da hatten sich die WAZ und ihr schillerndster Chefredakteur nicht mehr lieb. Gespart werden sollte, auf Redakteur komm’ raus. Das ging mit Lochthofen nicht, weil eines für ihn unabdingbar war: Eine gute Zeitung braucht gute Geschichten. Gute Geschichten gibt es bloß, gibt es genug gute (und gut bezahlte) Leute. „Denn nur, wer was gern macht, macht das gut.“ Kein Lochthofen, sondern das sagte einst meine Großmutter Alexandrine.

Der Entlassung folgte ein verbaler Schlagabtausch via SPIEGEL-Interview. „Das würde ich heute so nicht mehr geben“, bekundet Lochthofen auf der Schlachthof-Bühne. Statt mit goldenem Handschlag ging es mit einem Scharmützel um „Sippenhaft“ & Co. zu Ende.

Seither schreibt er – u. a. zwei Bücher über seine Familie und sein Leben bis zur Wende. Die verkauften sich überraschend gut. Trotzdem könne er davon nicht leben, erzählt er. Die Bücher sind indes nicht nur biografische Zeugnisse. Sie sind auch ein Zeit- und Sittengemälde – aus dem Blickwinkel eines Russen, der erst nach 1990 seine zweite, die deutsche Staatsbürgerschaft annahm.

Am finalen Band der Trilogie – wohl über die Jahre von 1990 bis zu seinem Abgang bei der TA – arbeite er noch. „Manche Geschichten kann man tot recherchieren“, weicht er aus. Zudem leben noch viele Zeitzeugen und Weggefährten …

Das Buch wird kommen. Dann gibt es sicher noch einen ganz anderen Schalk im Schlachthof zu erleben.

Die Bücher:
„Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters“, Rowohlt, Berlin 2012, ISBN 9783498039400

„Grau: Eine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land.“ Rowohlt, Reinbek 2014, ISBN 978-3-498-03944-8

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