Marion Brasch – „Ab jetzt ist Ruhe“

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Marion Brasch und ihre außergewöhnliche Familiengeschichte  „Ab jetzt ist Ruhe“
Eine Lesung im Rahmen der Frühlingslese Erfurt.

Marion Braschs Roman erzählt die Geschichte ihrer außergewöhnlichen Familie, so persönlich und bewegend wie kaum ein anderer Roman zuvor. Wenn man es als traurigen Mythos erzählen wollte, könnte man sagen, dass im Leben der Familie Brasch, das mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts auf so fatale und schmerzliche Weise verstrickt war, kein Platz mehr war für das neue Jahrtausend. Mit überraschender Leichtigkeit aber berichtet die „kleine Schwester“ von den dramatischen Ereignissen in ihrer Familie – Erfolg, Revolte, Verlust der drei Brüder – und folgt ihrem Weg durch Abenteuer und Wirren in die eigene Freiheit.

Der Vater war stellvertretender Kulturminister der DDR, der älteste Bruder, Thomas Brasch, wurde berühmt als Dichter und Dramatiker. So auch der mittlere Bruder Peter. Der Jüngste, Klaus Brasch wurde Schauspieler. Bekannt geworden indes, zehn Jahre nach seinem Tod aber schon halb wieder vergessen, wie auch seine Bücher,  ist vor allem Thomas Brasch. Er starb 2001, von Drogen und Alkohol und den zermürbenden, ein Jahrzehnt währenden Arbeiten an seinem heillosen Großprojekt über den Mädchenmörder Brunke gezeichnet.
Es ist schlussendlich nicht zu entscheiden, ob es das Verlassen der DDR im Jahr 1976 war, das nach einem kurzen und heftigen Höhenflug den künstlerischen und menschlichen Absturz von Brasch unumgänglich machte. Wahrscheinlicher aber ist, dass es die Versehrtheiten waren, die er als ältester Sohn des SED-Funktionärs und zeitweiligen stellvertretenden Ministers für Kultur, Horst Brasch, davontrug, von denen sich der 1945 Geborene nie mehr ganz erholen konnte. Vier Jahre im Drill einer Kadettenschule der Nationalen Volksarmee hatten den Jungen Qualen bereitet. Als Dreiundzwanzigjähriger war er wegen des Verteilens staatsfeindlicher Flugblätter inhaftiert und gefoltert worden – verraten vom eigenen Vater, dem die Treue zum System über die Liebe zu seinem Sohn ging.


Marion Brasch während der Lesung im Café Nerly
Marion Brasch während der Lesung im Café Nerly


Thomas Brasch ist nicht der einzige der drei Brasch-Brüder, der ein frühes und tragisches Ende nahm und an den Auswüchsen des Systems zerbrach. Sein jüngerer Bruder, der Schauspieler Klaus Brasch, starb nicht einmal dreißigjährig an einer Überdosis Alkohol und Tabletten, der gemeinsame Bruder Peter, ebenfalls Schriftsteller, wurde wenige Monate vor Thomas tot in seiner Wohnung gefunden.

Auch die Biographie des Vaters ist nicht frei von Verheerungen. Wegen seiner jüdischen Herkunft war Horst Brasch während der NS-Diktatur nach England emigriert, verschrieb sich dort dem Sozialismus und übersiedelte 1946 in die DDR. Sein Aufstieg innerhalb der Nomenklatura wurde durch die Verhaftung seines ältesten Sohnes jäh gebremst. Seine Ideologie stellte er deshalb aber nicht in Frage. Horst Brasch starb im Sommer 1989, kurz bevor seine Ideale endgültig zu Grabe getragen wurden. Seine Frau, die sich widerstrebend der Karriere ihres Mannes beugte, war da bereits seit vierzehn Jahren tot.

Den Weg ins 21. Jahrhundert gefunden hat nur eine: Marion Brasch, Jahrgang 1961, die jüngste Tochter. Nicht nur der Altersabstand trennt die heute als Radiomoderatorin arbeitende Brasch von ihren Brüdern – sechzehn Jahre jünger als Thomas Brasch, sechs Jahre jünger als der jüngste der Brüder – sondern vor allem, dass sie, anders als die Brüder, weder gegen das System noch gegen seine Auswüchse ins Innenleben der Familie rebellierte. Marion Brasch ist nicht nur in der DDR geblieben. Sie ist, ihrem Vater zuliebe, sogar in die SED eingetreten.
Heute steht auf dem Buchrücken:  „Meine drei Brüder hatten schon so wichtige Dinge getan, als sie in meinem Alter waren. Sie hatten rebelliert, um ihre Träume ins Leben zu holen. Und ich? Keine Leidenschaft für nichts. Stattdessen rief ich in meiner eigenen Wohnung an.“
„Ab jetzt ist Ruhe“, der Titel des Romans, rekurriert nicht nur auf ein Ins-Bett-bring-Ritual aus Kinderzeiten. In diesem Kontext erscheint er auch wie ein Stoßseufzer der Erleichterung. Erleichterung darüber, dass die Geschichte, auch wenn sie erzählt wird, in Frieden ruhen darf.

Darin mag Braschs Roman dem ersten Anschein nach eine gewisse Ähnlichkeit mit Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ haben, der ebenfalls die Geschichte der DDR-Nomenklatura nicht als Abrechnung schildert, sondern als Rekonstruktion einer Familiengeschichte, die untrennbar mit der größeren politischen Geschichte verbunden ist.
Die Fallhöhe zwischen dem, was Marion Brasch hier mit erstaunlicher Leichtigkeit beschreibt und der tatsächlichen Geschichte, mag dem umso bitterer aufstoßen, der die Geschichte kennt. Gerade darin, dass eine nachträgliche Reflexion und Analyse ausbleibt, liegt die grausame Wahrheit dieses Buches, das eben in diesem Behaupten von Alltäglichkeit sehr viel erzählt über das Leben nicht nur in Diktaturen, sondern auch über die Dynamiken von Familienkonflikten.

Als Thomas als letzter Verbliebene ihrer Familie im November 2001 starb, erzählt Marion Brasch, habe sie ihre Freunde angerufen, man habe „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt, sie habe sich in eine „weiche Abwesenheit“ gelacht und geweint. „Für einen Augenblick dachte ich“, heißt es weiter, „ich müsste mich dafür schämen. Doch ich schämte mich nicht.“
Was Marion Brasch mit ihrem Roman einfordert, ist das Recht auf eine eigene Geschichte jenseits der großen Geschichte, von einer Adoleszenz in einem untergehenden System. Von Normalität jenseits des Katastrophischen. In diesem Fall allerdings erscheint es wie eine Überlebensstrategie, um im Mythos dieser Familie nicht gänzlich zu verschwinden.
Die Besucher der Lesung im übervollen Café Nerly waren begeistert und ergriffen zugleich. Als Marion Brasch den Tag schilderte, an dem die Mehrheit der Deutschen dem Euro entgegen fieberte, sie 5 Rosen noch mit der alten D-Mark kaufte um ihre Familie auf den über Berlin verteilten Friedhöfen zu besuchen, stockte einigen der Atem.

„… und als ich an ihrem Grab stand, wartete ich wieder auf einen Gedanken. Er kam. Abwesend, dachte ich. Jetzt seid ihr alle abwesend. Das ist traurig, doch es hat auch was Gutes: Ihr könnt mir nicht mehr verlorengehen, weil ich euch schon verloren habe. Ich lege die letzten beiden Rosen auf das Grab meiner Eltern. Ich habe euch lieb, sagte ich. Und ab jetzt ist Ruhe.“

Ein großes Buch und eine wundervolle Frau!
Für mich, der Höhepunkt dieser Frühlingslese.

Text & Fotos: Holger John / VIADATA

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