Politikwissenschaftler der Universität Jena veranstalten Konferenz in Kiew

0
1116

Die Zivilgesellschaft spielt in den nächsten Jahren eine Schlüsselrolle bei der Demokratisierung und Europäisierung der Ukraine und ihrer Nachbarländer. In der Ukraine ist die Zahl an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) seit dem Maidan sprunghaft gestiegen – allein etwa 11.000 sind registriert, Zehntausende weitere arbeiten unregistriert. Da das Misstrauen in der Gesellschaft gegen das politische Establishment und die Furcht vor einer erneuten „Oligarchisierung“ sehr ausgeprägt bleibt, kommt den NGOs als „watchdogs“ entscheidende Bedeutung zu, soll die demokratische Wende gelingen. Ein Erfolg der Ukraine wiederum würde auf Weißrussland und Moldawien ausstrahlen, auch wenn diese derzeit fest im Griff russischer Politik und Medien zu sein scheinen.

In dieser Meinung einig waren sich die Teilnehmer einer Konferenz, die der Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Friedrich-Schiller-Universität Jena gerade in Kiew durchgeführt hat. An der Konferenz „Ukrainian Civil Society after the Maidan: Potentials and Challenges on the Way to Sustainable Democratization and Europeanization”, die vom Auswärtigen Amt und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) finanziert wurde, waren eine Vielzahl von Vertretern aus Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen aus Belarus, Deutschland, Moldawien und der Ukraine beteiligt. Ziel war es, Potenzial und Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements in der Ukraine nach der „Revolution der Würde“ zu erkunden, die Auswirkungen auf die Nachbarländer der östlichen Partnerschaft der EU zu diskutieren und Möglichkeiten künftiger externer Unterstützung durch Deutschland und die EU auszuloten. Das Institut für Politikwissenschaft der Jenaer Universität ist für diese Thematik besonders prädestiniert, bietet es doch bereits seit 2006 einen Doppeldiplom-Studiengang mit der Nationalen Universität Mohyla-Akademie in Kiew an, der angesichts der neuen Konstellation in der Ukraine vertieft und verbreitert werden soll.

Aufbruchstimmung in der Ukraine

Die Konferenz offenbarte, dass sich die ukrainische Gesellschaft weiter in einer Aufbruchstimmung befindet, die von Patriotismus und Europaorientierung geprägt ist. Die NGOs haben seit der „Orangenen Revolution“ 2004 deutlich an Expertise gewonnen, sind besser organisiert, sind eng mit der Politik vernetzt, reichen in die Regionen hinein und sind startbereit. Selbst eine Vertreterin aus Charkiw, einer Großstadt in unmittelbarer Nähe der Kämpfe, bekannte mit ungetrübtem Idealismus: „nothing is over“ und „I have never seen something like this in my life“. Andere verstehen sich als „alternative Regierung“ und bekennen, der neuen Regierung noch weniger zu vertrauen als der alten. Die ukrainische Gesellschaft ist zusammengerückt und entschlossen, ihre zweite Chance zur Demokratisierung nach 2004 zu nutzen. Ihre „europäische Wahl“ hat sie getroffen. Belarus, das ein NGO-Vertreter von dort als „totally dependent“ von Russland sieht, und Moldawien, wo 28 russische Fernsehkanäle Putins Sicht der Ukraine-Entwicklung propagieren, scheinen sich von diesen Entwicklungen abzukoppeln.

Dennoch bleibt die Demokratisierung in der Ukraine fragil, ist der Jenaer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Rafael Biermann überzeugt. Es wurde deutlich, dass die hohen Erwartungen der anwesenden NGO-Vertreter an die Politik unvermittelt in tiefe Enttäuschung über ausbleibende Reformen und neue Gewalt umschlagen kann. Vielen der neu entstandenen, sehr kleinen und kaum vernetzten NGOs mangele es zudem an Professionalität, auch durch ihre geringe Verflechtung mit internationalen NGOs wie Transparency International. Sie sehen sich als Ersatzregierung, ohne diesen Anspruch einlösen zu können. Mehr als Geld, so merkte man bei der Konferenz, brauchen sie Expertise. Bedingt auch durch den allseits spürbaren Patriotismus – die Ukraine befindet sich in einem Prozess der Nationenbildung – fokussieren viele NGOs auf die Unterstützung der Flüchtlinge und der Kämpfer in der Ostukraine, so dass die kritische Kontrolle der Regierungsarbeit und der Kampf gegen die Korruption zurücktreten. Andere NGOs drohen durch die Oligarchen, die in alte Positionen zurückzukehren suchen, vereinnahmt zu werden. Die anbrechende externe Hilfe ruft zudem wachsende Rivalität um Fördergelder hervor. Schließlich verursachen die von Russland wach gehaltenen Kämpfe in der Ostukraine eine Reformverzögerung, die kritisch werden kann. Die künftige Integration der kampferprobten Milizen in eine zivile Gesellschaft wird eine Herausforderung.

Deutlich wurde bei der Konferenz auch, dass das Fenster zur Demokratisierung und Europäisierung der Ukraine nicht unbegrenzt offen steht. Externe Demokratisierungshilfe müsse strategisch und langfristig ausgerichtet sein. Dabei hat die Herausbildung demokratisch ausgerichteter, europäisch gesinnter und kompetenter Führungskräfte („change agents“) in Politik, Wissenschaft, Medien und NGOs zentrale Bedeutung. Durch die Konferenz zogen sich deshalb Rufe nach einer Fokussierung der externen Unterstützung auf Bildung, Mobilität und Austausch. „Hier wird die Universität Jena in Zukunft beim Ausbau der Kooperation mit der Ukraine ansetzen“, betont Prof. Biermann.

(Bild: Die Direktorin des Kennan Institute in Kiew, Dr. Katia Smagliy, bei ihrem Vortrag während der Konferenz.
(Foto: Johann Zajaczkowski))