André Wesche im Gespräch mit dem Journalisten Ulrich Chaussy

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Der blinde Fleck
Ein Gespräch mit Ulrich Chaussy

Daniel Harrichs Drama „Der blinde Fleck“ erzählt seine Geschichte: Der deutsche Journalist Ulrich Chaussy (Jahrgang 1952) hat umfangreiche Recherchen im Zusammenhang mit dem Attentat auf das Münchner Oktoberfest angestellt, bei dem am 26. September 1980 13 Menschen in den Tod gerissen wurden. Chaussy trug zahlreiche Hinweise zusammen, die die offizielle These vom Einzeltäter ins Wanken bringen. Er mahnt eine Wiederaufnahme der Untersuchungen an. Im Film wird Ulrich Chaussy von Benno Fürmann verkörpert.

Herr Chaussy, der Film „Der blinde Fleck“ schlägt einen dramaturgischen Bogen zu den NSU-Morden. Hat die Arbeit am Film vor oder nach der Aufdeckung des NSU begonnen?

Sie hat Jahre zuvor begonnen. Im Jahre 2006 sollte für das ARD-Fernsehen ein historisches Feature zur Erinnerung an das Oktoberfest-Attentat entstehen. Ich habe daran mitgewirkt, als Autor eines Buches zum Thema und als Protagonist, der sich schon jahrelang ermittelnd damit beschäftigt hat. In diesem Zusammenhang habe ich meine Recherchen wieder aufgenommen. Ich habe mich an die damalige Generalbundesanwältin Frau Prof. Monika Harms gewandt, man möge doch die Asservate des Anschlags noch einmal mit modernen kriminaltechnischen Methoden untersuchen, die es Anfang der 80-er noch nicht gab. Auf diese Weise hätte man noch einmal den Spuren und Zeugenaussagen nachgehen können, die auf einen Mittäter hinweisen.

Welche Asservate waren dabei von besonderem Interesse?

Es gab zum Beispiel das Fragment einer abgerissenen menschlichen Hand, die in der Nacht nach der Tat gefunden worden ist. Sie ist im Abschlussbericht der ermittelnden Sonderkommission „Theresienwiese“ serologisch keinem der Toten des Anschlags zuzuordnen. Nach einiger Zeit wurde von der Bundesanwaltschaft eingeräumt, dass die Beweismittel, u.a. diese Hand, nicht mehr untersucht werden können, weil sämtliche Beweismittel vernichtet worden sind. Es war die Arbeit der folgenden Jahre, dem genauer nachzugehen. All diese Recherchen haben sich lange vor 2011 abgespielt.

Wie haben sich die „Mechanismen des Wegschauens“ in der Bundesrepublik über Politikergenerationen hinweg erhalten?

Die Eigenschaft des Wegschauens war nicht nur bei den Politikern ausgeprägt, sondern auch – was in diesem Zusammenhang natürlich besonders gravierend war – bei den Ermittlern, der Polizei und der Justiz. Man hat bei Straftaten, die von Rechtsextremisten begangen wurden, stets dazu geneigt, deren politische Motivation unter „ferner liefen“ abzuhandeln oder ganz auszublenden. Man hat bei dem Tatverdächtigen Gundolf Köhler, der aufgrund seiner Verletzungen als Bombenleger in Betracht kam, zunächst einmal untersucht, was für ein Mensch er war.

Wie hat er gelebt, was hat er gemacht, was hat er gedacht? Aus dieser Recherche heraus war von Anfang an bekannt, dass er sich auch im rechtsextremistischen Lager bewegt hat und Wehrsport gemacht hat. Er hatte eine Neigung zu Waffen und Sprengstoff. Das sollte doch Anlass dazu geben, näher zu untersuchen, mit wem er wann und wo Kontakt hatte. Stattdessen hat man versucht, ein persönliches Motiv für den Anschlag herauszuarbeiten. Er habe sich als Versager gefühlt und Misserfolge auf allen möglichen Ebenen gehabt. Er sei beim Studium durch eine Prüfung gefallen und seine Beziehungen zu Frauen seien erfolglos gewesen. Angeblich hat ein Zeuge bei ihm einen Universalhass beobachtet. Auf diese einzelne Aussage haben die Ermittler ihre Hypothese vom Einzeltäter gestützt.

Die Wahrheit gestaltete sich aber anders?

Ich habe andere Zeugen in Donaueschingen getroffen. Das ganze Psychogramm des Gundolf Köhler war derartig zugespitzt und manipulativ verfasst, dass ich mich wirklich gewundert habe. Es war ein großes Aha-Erlebnis, dann Informationen über die letzten Monate, Wochen und Tage im Leben des Gundolf Köhler zu sammeln, die allesamt nicht im Abschlussbericht der Sonderkommission zu finden waren. Dieser angeblich komplett isolierte Mann hat in den Sommerferien zuerst gejobbt, um anschließend auf eine große Europareise zu gehen.

Er hat Freunde und Verwandte besucht. Weil er Schlagzeug spielte, hat er wenige Wochen vor dem Anschlag eine Anzeige aufgegeben, in der er Anschluss an eine Band suchte. Er hat Musiker gesucht und gefunden, mit denen er mehrmals in der Woche geprobt hat. Als 21-jähriger, der angeblich keinerlei Perspektive mehr hat, hat Köhler als braver Schwabe einen Bausparvertrag abgeschlossen und einen ansehnlichen Betrag eingezahlt – unmittelbar in jener Zeit, in der er nach Aussagen der Ermittler nur noch mit seinem Hass beschäftigt war und ganz allein eine Höllenmaschine gebaut haben soll.

Was haben die Ermittler versäumt?

Man hätte sich wesentlich akribischer auf diese anderen Spuren verlegen sollen. Warum schaut man nicht nach, inwiefern diese Person auch organisatorisch vernetzt ist? Warum behauptet man, er habe diese Bombe allein gebaut, obwohl man nie den Nachweis führen konnte, woher er den ganzen militärischen Sprengstoff hatte? Es wurde so einiges in seinem Keller gefunden, aber keine Spuren von diesem Sprengstoff. Das ist etwas, was ich nicht verstehen kann.

Ich hätte mir eine größere Offenheit bei der Ermittlung gewünscht. Bei diesem Anschlag, bei dem 13 Menschen gestorben sind, hätte man, um diese Opfer zu würdigen und zu achten, nicht nach zwei Jahren die Aktendeckel schließen sollen um zu sagen: „So ist es gewesen.“. Man kann doch einräumen, dass man nicht dazu in der Lage war, alles vollständig aufzuklären. Dass man starke Hinweise auf Mittäter hat, diese aber nicht ausfindig machen konnte. Bei anderen Mordfällen haben die Bundebehörden doch einen sehr langen Atem bewiesen. Das wünschte ich mir auch beim Oktoberfestattentat.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach bei Politik und Nachrichtendiensten zuerst ändern, um Gefahren wie dieses Attentat oder die Mordserie des NSU schon im Vorfeld zu erkennen?

Beim NSU hat es Aspekte gegeben, die mit dem Oktoberfestattentat nicht vergleichbar sind. Die Hinterbliebenen der Opfer sahen sich unglaublichen Unterstellungen ausgesetzt. Man hat von irgendwelchen Händeln unter Ausländern gesprochen und den Aspekt der Ausländerfeindlichkeit ausgeblendet. Rechtsextremisten, sofern sie irgendwelche Straftaten begehen, wird immer wieder zugebilligt, dass sie eigentlich kein politisches Motiv haben, sondern aus einem persönlichen Hass heraus handeln. Dieser Hass ist aber meistens politisch geschürt.

Ich habe im Zusammenhang mit Straftaten gegen Ausländer immer vermisst, dass man auch die Wurzeln und den organisatorischen Hintergrund solcher Gruppen untersucht, die sich ausländerfeindlich und rassistisch gebärden und politische Forderungen aufstellen. Man hat bei den Mordtaten linker Terrorgruppen, insbesondere der RAF, immer gespürt, dass die Ermittler davon ausgegangen sind, dass sich hier Leute zusammengetan haben, die die politischen Verhältnisse durch Gewalt beeinflussen wollen. Sie denken sich das gemeinsam aus, sie schaffen sich gemeinsam ein ideologisches Feindbild und sie gehen eine Tat dann auch als Gruppe an und führen sie arbeitsteilig durch.

So etwas hat es im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen rechtsextremistische Straftäter nicht gegeben?

Nein. Hätte man beim Oktoberfestattentat auf diese Art und Weise ermittelt, dann hätte man vielleicht gesehen, dass die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ eine paramilitärische Gruppe ist, in der alle möglichen Leute aus sämtlichen Ecken der Republik und über Deutschland hinaus „angedockt“ haben. Sie fanden es spannend, da mal mitzumachen. Das war wie eine Drehscheibe, ein Vernetzungspunkt innerhalb des rechten Netzes. Nicht alle waren unter Herrn Hoffmanns Kontrolle, aber sie lernten sich dort alle kennen und konnten Verbindungen knüpfen.

Vielleicht haben sich auf diesem Weg auch Köhler und eventuelle Hintermänner und Mittäter gefunden. Köhler war ja bei der „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Dann hätte man ein Alarmzeichen gehabt, wenn man sich die Entwicklung in Thüringen in den späten 90-er Jahren angeschaut hätte. Man hätte die historische Erfahrung gebunkert, dass aus solchen Zusammenhängen heraus gemeinsame Aktionen entstehen können. Es gibt die Möglichkeit, dass sich innerhalb dieser Szene kleine Gruppen radikalisieren, sich herauslösen und in den Untergrund gehen. Bei den NSU-Ermittlungen lernen wir post festum und langsam, wie diese Zusammenhänge gewesen sind. Ich glaube, mit einem ordentlich ermittelten Oktoberfest-Attentat hätte der NSU nicht zehn Jahre lang mordend durch Deutschland ziehen können.

Bei Ihren Recherchen stießen Sie auf mehrere, zumindest merkwürdig zu nennende Todesfälle. Die Filmfigur entwickelt daraufhin eine gewisse Paranoia. Welche Gefühle haben Sie damals tatsächlich bewegt, hatte Sie auch Angst?

Ja, natürlich. Ich habe mit Daniel Harrich darüber diskutiert, wie man diese relativ unsichere Situation darstellen kann. Ich habe die Aktivitäten des Staatsschützers, der im Film Langemann heißt, langsam verstehen gelernt. Diese Art, auf die Ermittlungen destruktiv Einfluss zunehmen und die Journalistenschaft als nützliche Idioten zu verwenden, die noch vor den Ermittlern im Hinterland der Tat herumtrampeln.

Man hat Journalisten  in das Umfeld des mutmaßlich Tatbeteiligten geschickt. Da habe ich schon gedacht, das kann ja gar nicht wahr sein. Das von einem Mann, der in seiner Doktorarbeit über politische Attentate minutiös beschreibt, dass es so gut wie nie Einzeltäter gibt. Die absolute Einzeltat, die von einem allein ausgedacht und ausgeführt wird, ist die große Ausnahme, heißt es da. In den allermeisten Fällen käme ein „vorgeschobener Einzeltäter“ zum Einsatz.

Er hat den Begriff des „vorgeschobenen Einzeltäters“ selbst geprägt?

Ja. Und bei einem Staatsschützer, der seine eigenen Theorien dann so umsetzt, dass er diesem „Vorgeschobenen“ alle Beziehungen ins Hinterland abschneidet, habe ich mir auch alles Mögliche vorstellen können, was mir zustoßen könnte. Sie interpretieren die Szene so, wie sie gemeint ist. Ich habe eher eine Paranoia entwickelt, als das tatsächlich irgendetwas passiert ist.

Der Umstand, dass ich bei dieser Sache sehr lang gegen Mauern gerannt bin und viele Dinge nicht herausbekommen habe, der macht schon ziemlich einsam. Man fragt sich, ob man sich in etwas verrennt und ist insgesamt in einer Position, in der man manchmal nicht mehr so recht unterscheiden kann, was Sache ist. Das sollte in dem Film einen Niederschlag finden: Was macht so eine Recherche mit einem, der sie betreibt?

Die Fragen stellte André Wesche.

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