Der Aufstieg der Gotteskrieger

0
1526

Einst dachte man an die schöne Scheherazade aus „Tausendundeine Nacht“ oder an weise Sultane und Wesire, wenn vom Orient oder dem Morgenland die Rede war. Inzwischen besetzen Selbstmord-Attentäter und zornige Gotteskrieger häufig die Nachrichtensendungen. Nicht der geheimnisvolle Orient bestimmt das Denken, sondern die diffuse Angst vor dem Kalifat, das Abu Bakr al-Baghdadi Ende Juni 2014 ausgerufen hat. 

„Die muslimische Welt ist gegenwärtig besonders dynamisch“, sagt Prof. Dr. Tilman Seidensticker von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das Kalifat der Gruppierung „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ – bekannt als ISIS und jetzt  IS – sei dafür ein gutes Beispiel: Nicht einmal die Taliban waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht auf den Gedanken gekommen, wieder ein Kalifat zu proklamieren. Dabei hätte das nahegelegen: Die Sehnsucht nach einstiger Größe sei eine wichtige Antriebskraft der Islamisten, konstatiert Seidensticker, der dem Phänomen des Islamismus in einer aktuellen Publikation nachgeht.

„Der fortwährende Bedeutungsverlust des Islam seit dem Ende des Goldenen Zeitalters wird als Kränkung empfunden, die faktisch jedem Gläubigen bewusst ist“, sagt der Islamwissenschaftler. Immerhin beherrschten die Muslime seit dem 8. Jahrhundert über Jahrhunderte die Iberische Halbinsel bis zu den Pyrenäen, während sich muslimisch beherrschte Gebiete im Norden bis an den Kaukasus, im Osten gar bis in den Indischen Subkontinent und bis nach Westturkestan erstreckten. Doch mit dem Fall Toledos 1085 begann der Niedergang des muslimisch geprägten Weltreichs, dem 1492 durch die Eroberung Granadas ein weiterer schwerer Schlag versetzt wurde. Später errangen die Briten die Vorherrschaft in Indien, und sie erhielten nach dem Ersten Weltkrieg die Kontrolle über Palästina, Jordanien und den Irak.

Die einstige Größe und die diffuse Sehnsucht nach einem erneuten Aufstieg des Islam dienen den Islamisten bis heute dazu, neue Anhänger zu gewinnen. Dabei, so Seidensticker, ist das Phänomen Islamismus selbst erst seit den 1920er Jahren in Erscheinung getreten.

Der Wissenschaftler definiert Islamismus als Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden. Dabei seien die Islamisten innerhalb der muslimischen Welt eine Minderheit, sagt Seidensticker. Von den in Deutschland lebenden Muslimen etwa könnten gerade einmal 0,1 Prozent den Salafisten zugerechnet werden.

Aktuell hat Seidensticker das Buch „Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen“ veröffentlicht. Erläutert werden darin die Hauptströmungen des politischen Islams wie Wahhabismus, Salafismus und Muslimbrüder sowie deren wichtigste Protagonisten. Dabei liegt der Fokus auf dem historischen Kontext, während das tagesaktuelle Geschehen nur beispielhaft erwähnt wird.

Beschrieben wird etwa der Aufstieg der Muslimbrüder in Ägypten, die 1928 durch den erst 23-jährigen Hasan al-Bannâ (1906-1949) gegründet worden waren. Rasch entwickelte sich die „Vereinigung der Muslimischen Brüder“ zu einer Massenbewegung, die insbesondere in den Provinzstädten Ägyptens aktiv wurde. Al-Bannâ orientierte sich an westlichen Organisationen wie dem Christlichen Verein Junger Männer. Solche modernen Anleihen bei gleichzeitiger Berufung auf eine – oft konstruierte – islamische Vergangenheit sind ein Phänomen, das für den Islamismus typisch ist. Regionale und ideologische Besonderheiten sorgen dennoch für erstaunliche Vielfalt: Den einen Islamismus gibt es nicht, das macht Seidenstickers Buch deutlich.

 

Bibliographische Angaben:

Tilman Seidensticker: „Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen“, Verlag C. H. Beck, München 2014, 128 Seiten, 8,95 Euro, ISBN: 978-3-406-66069-6

Fliesenstudio Arnold