Fluchten aus sich und in sich hinein

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„Ich bin mir nicht sicher, dass das Stück, was ich gerade auf der Bühne gesehen habe, identisch ist mit dem, was in meinem Kopf aufgeführt wurde.“ Die neue Theaterproduktion „Fluchten“ vom art der stadt e.V. stellte die Zuschauer im Kulturhaus Gotha auf eine besondere Probe – und konnte dabei vorbehaltlos begeistern.

Die drei Schauspielerinnen (Lara, Klarissa und Luisa) und zwei Schauspieler (Vinzenz und Titus) brauchen keine Kulisse und keine Requisiten. Sie gehen, schreiten und tanzen in einem Raum, der durch sie selbst definiert wird. Ein feines Liniennetz trennt sie von den Zuschauern und gibt zugleich Muster frei, architektonische Fluchtpunkte, die unversehens auch als innere Lebenswirklichkeiten verstanden werden können. Diese Linien werden von den Spielern auf- und angegriffen. Sie finden Gesten und Gebärden, die sie nur für sich ausbilden, an andere weitergeben und verwandelt wieder zurückbekommen. Es sind verschlüsselte Bewegungszeichen, die der Zuschauer nicht verstehen muss – aber irgendwie sich doch erschließt.

In diese geheimnisvollen Muster werden Sätze gewoben: mal im Chor gesprochen, mal vereinzelt, dann wieder zusammenfindend, auseinanderbrechend, sich einmal gar Satz um Satz zu verstümmeln und zusammenzuklumpen bis zur Unverständlichkeit. Dann wieder überhöht sich die Sprache zum Gesang, zum Lied.

Doch damit nicht genug. Licht und Farbe sind ein eigenes Spielelement an diesem Abend. Es betont, hebt hervor oder verbirgt. Manchmal verlischt es geradezu, lässt die Spieler im Dunkeln. Dann wieder setzen Farben Akzente, verfälschen oder ernüchtern. Ein ausdauerndes Verdämmern und wieder Hervorbringen. Gelegentlich verdichten sich die Formen zu Projektionen von Orten, die Gothakennern sogleich wiedererkenntlich sind. Aber es ist unwichtig, den Namen der Orte zu wissen. Der Bewegungsduktus der Kamera ist bedeutsam. Sie gibt keine Dokumentation, keine Schilderung von der Stadt. Die Kamera trudelt und schwankt durch die Orte, die trotz helllichten Tages verlassen daliegen. Ein querendes Auto wird zum Ereignis.

Doch noch immer nicht genug. Die Musik ist ein weiteres eigenständiges Element an diesem Abend. Einerseits ist sie ganz eigenständig. Dann wieder unterstützt sie die Spieler, gibt ihnen Rhythmus und Takt vor, begleitet sie bei den Gesängen und verliert sich wieder in sich selbst, zieht sich zurück und gibt der Sprache Raum.

Ununterbrochen bezieht sich alles aufeinander, gibt sich Rätsel auf, verschlüsselt, verschleiert und verlockt. Immer wieder einmal werden unverständliche Codes eingeblendet, Liniengewirre, Pfeile. Bezüge. Einfach so. Sinnfluchten vielleicht? Geistige Fluchtburgen? Fluchten in sich selbst, aus sich heraus, zum anderen hin?

Unter der Leitung von Constantin von Thun hat dieses Ensemble vom art der stadt e.V. etwas geschaffen, das in vielerlei Hinsicht überrascht. Die Bühnenpräsenz der Spieler ist vom ersten Schritt an zu spüren. Sie agieren wirklich miteinander, geben sich Raum, beziehen sich aufeinander. Dazu kommt die Fülle der Details auf den verschiedenen künstlerischen Ebenen. Es ist vielleicht ein wenig zu großartig, dabei von einem Gesamtkunstwerk zu sprechen. Aber „Fluchten“ geht eindeutig in diese Richtung, findet seine ganz eigenwillige Ausdeutung – und ist nicht zuletzt ein ziemlich wirkungsvolles „Tanzsprechtheaterstück“.