Soziologen der Uni Jena mit Zwischenbilanz ihrer Gegenwartsanalyse

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Der Mensch in der Moderne bewegt sich im Schnelldurchlauf: Gehetzt von einer Deadline zur nächsten, arbeitet er Projekte und Termine ab, deren Tempo und Frequenz meist von äußeren Zwängen diktiert werden.

Ob in der Politik, der Finanzwelt oder im eher kleinen, persönlichen Umfeld – das Gefühl von Zeitdruck und Überforderung eint viele Menschen der westlichen Welt, wie Prof. Dr. Hartmut Rosa (Bild, Foto: Anne Günther/FSU) von der Friedrich-Schiller-Universität Jena regelmäßig diagnostiziert. „Beschleunigungseffekte und die kontinuierliche Steigerungsdynamik in praktisch allen Lebensbereichen geben dem Einzelnen das Gefühl, ständig im Wettbewerb zu stehen“, so der Soziologe, der auch das Max-Weber-Kolleg der Uni Erfurt leitet. Doch im Dauerstress des Wettbewerbs erodieren die individuellen Ressourcen: Entscheidungen werden vielfach getroffen – ob über persönliche biografische Weichenstellungen oder über Fragen der „großen“ Politik, wie milliardenschwere Finanzhilfen oder die Entsendung von militärischen Eingreiftruppen – ohne, dass genügend Zeit zum Abwägen und Reflektieren wäre.

Welche Folgen diese wachsende Spannung zwischen dem überforderten Individuum und den gesellschaftlichen Institutionen hat, die auf die Handlungsfähigkeit eben jener Menschen angewiesen sind, das nehmen die Soziologen der Uni Jena derzeit in drei Forschungsprojekten intensiv unter die Lupe. Am 6. und 7. März treffen sich die Forscher um Prof. Rosa mit Fachkollegen aus ganz Deutschland zum Workshop „Praktiken der Selbstbestimmung. Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis“, um gemeinsam den aktuellen Forschungsstand zu diskutieren und eine Zwischenbilanz ihrer Gegenwartsanalyse zu ziehen. Zum Workshop im „Haus zur Rosen“ werden etwa 40 Teilnehmer aus Deutschland und Österreich erwartet. Der Workshop wird von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.

„Die moderne Gesellschaft ist vom Wunsch und dem Anspruch des Einzelnen nach Autonomie und Entscheidungsfreiheit geprägt und zugleich werden eigenverantwortliches Handeln und Entscheiden im öffentlichen Leben und der Arbeitswelt vorausgesetzt“, beschreibt Dr. Jörg Oberthür die Ausgangssituation. Doch die Voraussetzungen dafür seien in vielen Fällen kaum noch gegeben, machen die Jenaer Soziologinnen und Soziologen deutlich, die den Workshop organisieren. In ihren aktuellen Projekten gehen Dr. Diana Lindner („Optimierung“; gefördert durch die VW-Stiftung), Dr. Ulf Bohmann („Zeitstrukturen“; gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – DFG) und Dr. Stefanie Börner sowie André Stiegler („Autonomie“; DFG-gefördert) den Veränderungsprozessen nach, die sich in diesem Spannungsfeld zwischen Individuen und Institutionen vollziehen: der Überforderung, der sich das Individuum durch immer weitere Selbstoptimierung zu entziehen versucht ebenso, wie den nur schwer zu vereinbarenden unterschiedlichen Zeitskalen, auf denen sich etwa wirtschaftliche Entscheidungen und politisch-demokratische Prozesse bewegen.

Diese Veränderungsprozesse sind auch Gegenstand des Workshops. Ihnen wollen die Teilnehmer in den Bereichen Arbeitswelt und Wohlfahrtsstaat, Demokratie und Öffentlichkeit sowie Wissenschaft und Bildung nachgehen und die jeweiligen Besonderheiten identifizieren. „Zudem wollen wir die Frage beantworten, ob es auch gemeinsame Tendenzen über alle untersuchten gesellschaftlichen Bereiche gibt“, kündigt Mitorganisator Oberthür an. Die Vorträge des Jenaer Workshops werden im Anschluss in einem Tagungsband veröffentlicht.

Das Workshop-Programm und weitere Informationen sind zu finden unter: www.soziologie.uni-jena.de/LSRosa_Veranstaltungen.html.