Welches Bild verbindet die Gesellschaft mit einem Heimkind? Schwererziehbare Jugendliche mit absehbarer krimineller Karriere aus asozialem Elternhaus oder arme, verlassene Waisenkinder auf der Suche nach Geborgenheit?
Petra Winkler (Foto) leitet drei Kinder- und Jugendeinrichtungen, eine EBS (Erziehungs, Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle), den Kinderschutzdienst im Landkreis Gotha, in Erfurt sechs Kinderdorfhäuser und kann auf 35 Jahre Erfahrung in der Heimerziehung zurückblicken. Man spürt im Gespräch mit ihr, wie sehr für sie ihr Beruf Berufung ist. Mit Herz, Engagement und Durchsetzungskraft setzt sie sich für ihre Schützlinge, ihre Angestellten und die Achtung sozialer Arbeit in der Gesellschaft ein. Die 54-jährige Dipl. Sozialpädagogin/-Sozialarbeiterin spricht mit dem Oscar am Freitag über sozialistische Zeiten, räumt mit Vorurteilen und falschen Vorstellungen auf und verdeutlicht, wie groß der Kampf um Anerkennung und finanzielle Zuwendungen sein kann.
Frau Winkler, Sie erlebten die Heimerziehung in der DDR, die bis heute auch immer wieder in der öffentlichen Kritik steht, wie waren ihre Eindrücke?
Ich weiß, das es viele Kinder weit gebracht haben, im Leben angekommen sind und eigene Familien gründeten. Aber es gab auch Einrichtungen mit ca. 100 Kindern. Bei einer solchen Größe konnte die Kinder nicht optimal gefördert werden.
Wie war der Umgang mit Kindern, die ihren Eltern aus politischen Gründen entzogen wurden?
Wir lernten erst im Laufe der Zeit mit solchen Situationen gut umzugehen, denn in der Ausbildung nahm Psychologie kaum Raum ein. Es ist gut, dass die Anforderungsprofile an den sozialen Beruf gewachsen sind. Es ist einfach viel Wissen notwendig, um helfen verstehen und helfen zu können.
Wie unterscheidet sich die heutige Heimerziehung zu der vor 1989?
Den Antrag auf „Hilfe zur Erziehung“ stellen immer die Eltern! Theoretisch können Eltern vor dem Heim stehen und die Herausgabe ihres Kindes verlangen.
Heißt das, dass Sie sogar bei drohender Gewalt oder Vernachlässigung das Kind „herausgeben“ müssen?
Ja! Das ist die Kehrseite der Demokratie. Diese Prozesse laufen immer mit dem Jugendamt gemeinsam. Dieses kennt die Situation und entscheidet, indem beispielsweise das Gericht angerufen wird, um eine Herausnahme anzuordnen. Aber es kann auch vorkommen, dass ein Gericht ein Kind nach Hause lässt, obwohl das Jugendamt und wir der Meinung sind, dass es den Kindern nicht gut gehen wird. Traumatische Erlebnisse prägen einen Menschen den Rest seines Lebens und werden zum Teil über Generationen weitergereicht. Wir haben ein neues Kinderschutzgesetz, welches u.a. den präventiven Schutz vor sexueller, seelischer und körperlicher Gewalt zusichert, aber die Umsetzung geht nur gemeinsam mit der Gesellschaft. Die Bereitschaft der Gesellschaft, sich einzubringen, lässt noch zu wünschen übrig.
Können Sie das bitte erläutern?
Man stelle sich Nachbarn vor, die darüber nachdenken, vermeintliche Misshandlungen anzuzeigen und damit eine Lawine ins Rollen bringen: Da spielen Ängste wie unberechtigtes Anschwärzen bis hin zur Befürchtung, dass das Auto zerkratzt wird, eine Rolle. Zivilcourage erfordert Mut, Aushalten können und Stärke zeigen! Ich kenne keinen Fall, in dem ein Kind zu Unrecht durch Behörden aus der Familie genommen wurde. Aber ich kenne Fälle, in denen Richter entschieden haben, das Kind soll zurück in seine Familie und wir hatten Angst, ob das Kind das überlebt!
Wie gelingt es ihnen, professionelle Distanz zu bewahren, sich und ihre familiäre Privatsphäre zu schützen?
Anfangs hätte ich am liebsten jedes zweite Kind mit nach Hause genommen, das war auch nicht immer einfach für meine Familie. Heute weis ich, dass ich dafür da bin, gemeinsam mit meinen Kollegen Lebensräume zu schaffen, in denen sich die jungen Menschen in ihrer Individualität entwickeln können und zu selbstbestimmten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Trotz vieler Enttäuschungen glaube ich fest an das Gute im Menschen und die „Wunderwaffe Kommunikation“. Entscheidend ist es, zu verstehen, warum der Andere so reagiert und daraus Hilfen anzubieten, die etwas verändern.
Welche gesellschaftliche Stellung hat ein Heimkind?
Man kann doch nur beurteilen, was man kennt und einschätzen kann! Selbst die Eltern stehen nicht dazu, sie schämen sich auch versagt zu haben. wenn sie Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen und ihr Kind zeitweise bei uns untergebracht ist. Es entsetzt mich, wenn Eltern oder Lehrer als vermeintlich pädagogisches Druckmittel anfragen, ob sich mal ein Heim mit ihren Schützlingen anschauen können. Wir sind doch kein Zoo oder Kinderknast!
In der DDR verbrachten Kinder ihre ganze Kindheit oder auch kürzer im Heim , heute bleiben sie im Schnitt zwei bis vier Jahre, oder wenn es kein verfügbares Elternhaus gibt auch bis zur Verselbständigung. Wir wollen Eltern in schwierigen Lebenslagen unterstützen, wenn ambulante Maßnahmen nicht ausreichen, kann eine Herausnahme aus den Familien von Nutzen sein. Uns wird vorgeworfen, wir wären teuer und arbeiten nicht nachhaltig, das ärgert mich. Wir sind kein Betrieb, der gewinnorientiert nach Kennzahlen arbeitet, sondern eine gemeinnützige Einrichtung, die Leistungen erbringt, zu denen sich der Sozialstaat verpflichtet hat.
Aber ist es nicht so, dass Heimkinder in Schulen immer wieder negativ auffallen und Ärger vorprogrammiert ist?
Die Anschrift, macht doch einen Menschen nicht per se schlechter oder besser. Würden Sie bei einer Handvoll Kinder erkennen, welches Hilfe zur Erziehung an Anspruch nimmt? Können Sie abschätzen, was aus diesen Kindern und Jugendlichen ohne unsere Hilfe geworden wäre? Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Heimkind und Auffälligkeiten! Man könnte es auch anders sehen: Diese Kinder haben das Glück, in einer schweren Lebenslage Hilfe zu erhalten. Das Leben ist vorurteilsfreier, wenn wir nicht wissen, wo wir herkommen!
Welche Bildungschancen räumen Sie einem Heimkind ein?
Die Erfahrung zeigt, dass längere Heimaufenthalte sich positiv auf die schulischen Leistungen auswirken. Wir fördern mit Schulsozialarbeitern die Kinder und Jugendlichen intensivst und ressourcenorientiert. Wir nutzen dazu eine computergestütztes Lernentwicklungs- und Hausaufgabenprogramm des „Projekt Petra“ GmbH. Es ist fantastisch, wie sehr die Kinder voneinander profitieren. In unseren Häusern leben wir ein ganz normales Leben und einen Alltag.
Wie minimieren Sie die Belastung für Heimerzieher?
Allerdings muss ich betonen, dass der Landkreis Gotha mit uns sehr gut zusammen arbeitet, das kenne ich aus anderen Region nicht in dieser angenehmen Form.
Wie sieht für Sie die Heimerziehung der Zukunft aus?
Ich würde gerne die Eltern viel intensiver in unsere Arbeit einbinden, da sich langfristig nur etwas ändern kann, wenn sich nicht nur die Kinder entwickeln, sondern auch der familiäre und häusliche Hintergrund verlässlich zur Verfügung steht. Kinderdörfer sind echte Alternativen. Eine Erzieherin lebt mit ihrem Partner und den Kindern das ganze Jahr unter einem Dach. Das ist eine unglaubliche Leistung, die dort vollbracht wird.
Von welcher Seite würden Sie sich mehr Unterstützung wünschen?
Ich wünsche mir mehr öffentliche Anerkennung und Wertschätzung durch Behörden und Politiker für die Menschen, die in diesem Beruf tätig sind. Ich trage die Verantwortung für ca 120 Kinder und auch Familien im ambulanten Bereich mit 110 Angestellten und muss mitunter hart kämpfen und mich durchsetzen. Aber ich lebe und liebe diesen Beruf und wünsche mir mehr Menschen, die bereit sind, eine solche Verantwortung zu übernehmen.
Frau Winkler, herzlichen Dank für das Gespräch!
Livia Zimmermann
Anmerkung der Gothaer Internetzeitung: Die gekürtzte Version dieses Interviews erschien in der aktuellen Ausgabe des Lokalmagazins „Oscar am Freitag“, die heute im Landkreis Gotha in den erreichbaren Briefkästen liegt.