Muss eine Behindertenwerkstatt wirtschaftlich sein? Pfarrer Bomm antwortet …

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608 Menschen mit Behinderung beschäftigt der Bodelschwingh-Hof Mechterstädt. 210 Menschen leben in den Wohnheimen der Einrichtung, die 306 Mitarbeitende hat. Zahlen, die zeigen, dass der Bodelschwingh-Hof Aufgaben zu bewältigen hat, die einem mittelständischen Unternehmen kaum nachstehen. Kaum einer weiß das besser als Volker Bomm. Der Pfarrer der Gemeinden Mechterstädt und Laucha ist seit mehr als 20 Jahren in der gemeinnützigen Einrichtung aktiv. Seit 2008 agiert Bomm als Aufsichtsratsvorsitzender, davor war er Vorstandsvorsitzender. Im Interview mit Oscar-Redakteur David Ortmann spricht der umtriebige 60-Jährige über die Erfolgsgeschichte und die Herausforderungen der Zukunft. 

Herr Bomm, müssen Sie sich manchmal kneifen?
Nein, warum?
Weil die Geschichte des Bodelschwingh-Hofes in Mechterstädt ja als Erfolgsgeschichte gilt …
Das stimmt allerdings. Allein, wenn ich an unsere Werkstätten denke …
Die einer der größten Arbeitgeber in Westthüringen sind …
Richtig. Wir arbeiten für etablierte Partner in der Wirtschaft. Und wir sind so zertifiziert, dass wir direkt ans Band liefern können. Das ist natürlich ein Qualitätsanspruch. Doch das eigentlich Interessante ist, dass wir selbst in den Rezessionsphasen eine Steigerung verzeichnen konnten. Wir haben 1992 mit 170 Beschäftigten in den Werkstätten begonnen. In diesem Bereich arbeiten heute 608 Menschen. Der Umsatz ist allein in den vergangenen fünf Jahren um 83 Prozent gestiegen. Das kann sich sehen lassen!
Eine Entwicklung, die so geplant war?
Wir hatten 1992 kein Ziel, das wir in Zahlen ausdrücken konnten. Wir wollten wachsen, aber nicht wuchern. Unsere Strategie waren kleinere Einrichtungen, verteilt im ganzen Landkreis Gotha. Und das ist uns gelungen. Zumal es im Moment keinen Stau an Reparaturen und Instandsetzungsarbeiten gibt. Wir haben alles neu gebaut. Und das, was wir übernommen haben, wurde modernisiert. 
Hatten Sie nie Angst, dass Sie die Dynamik der Entwicklung überfordert?
Wir hatten ein gesundes Wachstum. Ich habe dann auch manchmal auf die Bremse getreten, um nicht zu wuchern, sondern langsam und kontinuierlich zu wachsen. Und um darauf zu achten, dass unser Hauptgeschäft das bleibt, was es aus der Tradition heraus ist – nämlich die Behindertenhilfe.
Und in zehn Jahren noch sein wird?
Eigentlich müsste es das Ziel in unserer Gesellschaft sein, dass wir überflüssig sind. Denn normalerweise gehören die Menschen hier weitgehend in den ersten Arbeitsmarkt integriert. Das geht aufgrund der Arbeitsmarktlage und aufgrund des Denkens aber nicht. Weil ein Mensch mit Behinderung oft eben nur 30 Prozent der Leistungsfähigkeit eines anderen hat.
Was kann der Bodelschwingh-Hof daran ändern?
Es gab eine Zeit, in der alles outgesourct wurde. Zum Beispiel ein Teil der Hauswirtschafts- und Reinigungsarbeit. Dabei sollten die Arbeiten lieber unsere Beschäftigten verrichten. Unsere Gärtnerei übernimmt zum Beispiel schon viele auswärtige Arbeiten. Das ist richtig. Schließlich muss unser Ziel sein, möglichst viele Beschäftigte in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.
Der christliche Glaube ist in Ihrem Leitbild fest verankert. Bleibt bei dem Druck und dem Berg an Arbeit überhaupt noch Zeit für den Glauben?
Natürlich. Wir fördern auch das geistige Leben in unserer Einrichtung. Ganz neu sind zum Beispiel die Gottesdienste für Menschen mit demenzieller Erkrankung. Ein Problem, das zunehmen wird. Es ist für mich ein prägendes Erlebnis gewesen, wie man Zugänge schaffen kann. Weil man ja immer davon ausgeht, dass ein Mensch mit demenzieller Erkrankung ab einem gewissen Zeitraum nicht mehr in unserer Wirklichkeit lebt. Und da ist es schon ein kleines Wunder, wenn jemand, der nicht einmal mehr weiß, dass die Tasse, die vor ihm steht, zum Trinken da ist, plötzlich anfängt und das Vater Unser mit betet. Man muss dem Augenblick in dieser Situation mehr Wert geben. Das muss das Ziel sein.

Oscar am Freitag, 25. März 2011