Aus dem „Trauma“ wurde „Das Wunder von Gotha“

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H&H Makler

Es ist gerade einmal 75 Tage her, da war Nikolaus. Und der Tag, an dem es hieß: Die Bilder vom Gothaer Kunstraub 1979 sind aufgetaucht. Nun waren sie für eine Woche wieder in der Residenzstadt, bevor sie nun – an sicherem Ort verwahrt – demnächst restauriert werden. Im Mai 2021, so die Pläne, werden sie dann in einer Sonderausstellung zu sehen sein.

Was bisher geschah
Oktober 2018. Gothas Oberbürgermeister Knut Kreuch bekommt einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung ein Anwalt, mit dem Kreuch schon öfter zu tun hatte – in seiner Funktion als Vorsitzender der Stiftung Schloss Friedenstein und beim Wiederbeschaffen von verlorenen Schätzen der Gothaer Sammlungen.

Der Jurist aus Süddeutschland offerierte Kreuch Unglaubliches: Er könne die Bilder zum Rückkauf anbieten. Eine Erbengemeinschaft habe ihn dafür autorisiert.

Kreuch nahm unverzüglich Kontakt zur „Ernst von Siemens“-Kunststiftung auf, die schon mehrfach Gotha bei solch heiklen Transaktionen behilflich war.

Jüngst war das der Fall beim Elfenbein-Humpen. Der kehrte im Februar 2018 nach über 70 Jahren an seinen Platz in der Friedensteiner Kunstkammer zurück. Seither sind die originale Deckelbekrönung – eine Elfenbeinfigur des Priesters Aaron, die in Gotha verblieben war – und das Gefäß, das seit den Nachkriegswirren als vermisst galt, wieder vereint.

Kreuch und der Generalsekretär der „Ernst von Siemens“-Kunststiftung, Dr. Martin Hoernes, handelten lange Zeit konspirativ. Konnten die aktuellen Besitzer überzeugen, alle Bilder zwecks Prüfung der Echtheit auszuhändigen. Im September 2019 lagen sie dann auf den Tischen des in solchen Angelegenheiten renommierten Rathgen-Labors in Berlin.

„Sie sind zurück!“
Und nun waren sie – wenn auch nur für eine Woche – zurück in Gotha. Großen Bahnhof gab es deshalb am vorigen Montag im Herzoglichen Museum. Im Gegensatz zur Pressekonferenz drei Tage zuvor in Berlin war dieses Mal das Haus voll. Mehrere Kamerateams liefen auf, diverse Tageszeitungen hatten Leute vor Ort. Und alle wollten die Bilder sehen.

Auch Thüringens Ministerpräsident Ramelow: Der gestand, überwältigt gewesen zu sein, als er den Originalen erstmals gegenüberstand. Wie viele, kannte Ramelow bisher nur die Schwarz-Weiß-Fotos: „Aber solche Fotografien entfalten nicht die Kraft, die diese Bilder in sich tragen“, betonte er. Man könne sich glücklich schätzen, dass der spannende Krimi um den größten und spektakulärsten Kunstraub in DDR-Zeiten ein gutes Ende gefunden habe.
Die Bilder deshalb wieder da seien, wo sie hingehörten – „an den Wänden in Gotha“, wie er sagte.
Und Ramelow wurde nicht müde, Gothas OB Knut Kreuch zu loben: Er habe couragiert gehandelt, als sich die Gelegenheit ergab, sich nicht erst abgesichert. Auch wenn unklar war, wohin das führen würde, habe er einen Köder mit seiner Angel ausgeworfen. Dafür sei Kreuch zu danken. Er sei ein Goldstück, weil er eine Chance genutzt habe, die sich unter anderen Umständen für die Landesregierung nicht ergeben hätte.“
Ramelow wörtlich: „In den letzten Tagen habe ich gelernt, das Gesicht von Knut Kreuch zu lieben. Er ist die Sphinx von Gotha. Ich verstehe auch, warum er so guckt, wie er guckt. Er hat nicht nur den Schalk im Nacken, sondern zeigt auch die Freude, dass die Bilder wieder da sind.“ Dieses Lippen- und Liebesbekenntnis löste allgemeine und große Heiterkeit aus.

Dr. Babette Winter, die Vorsitzende der Stiftung Schloss Friedenstein, indes wollte sich nicht zum Gesicht Knut Kreuchs äußern. Gern aber sprach sie über das offene und konstruktive Verhältnis, das sie zu Gothas Obermeister aller Bürger habe. Die beiden lösen sich u. a. alle Jahre im Stiftungsvorsitz ab. Sie begrüßte, dass die Gothaer nun eine Woche lang bis einschließlich Sonntag die Bilder bestaunen konnten.
Winter erhoffte sich zudem ein Signal an die Erbengeneration jener, die nach dem Zweiten Weltkrieg und später sich unrechtmäßig Kunstgegenstände angeeignet hätten. Sie sollten dem Beispiel jener folgen, die nun die Gothaer Sensation ermöglichten und unrechtmäßig Erworbenes zurückgeben.

Dass das eine sehr heikle Angelegenheit gewesen sei, betonte auch Dr. Friederike Gräfin von Brühl. Die Berliner Rechtsanwältin hatte sich der Sache angenommen. Sie betonte, dass das gute Ende nicht absehbar gewesen sei. Ein Grund sei die deutsche Rechtslage: Wer Kunstgegenstände sein Eigen nennt, die zwar gestohlen wurden, die man aber guten Glaubens erworben hatte, der darf sie nach 30 Jahren behalten – auch wenn ein anderer der tatsächliche Eigentümer ist.
Das war auch der Grund, warum 2009 Knut Kreuch noch einmal eine große mediale Kampagne gestartet hatte – hoffend, dass so bekannt würde, wo sich die Bilder befinden.

Am Anfang habe die Erbengemeinschaft, die nun diese Bilder hatte, eine hohe Summe gefordert. Es sei aber gelungen, so die Anwältin, eine einvernehmliche Regelung zu treffen, ohne dass Geld geflossen sei. Weitere Einzelheiten nannten weder sie, noch Knut Kreuch.

Der blieb erstaunlich knapp bei seinem Statement: Er habe in den letzten Tagen schon sehr viel erzählt. Er sei bekannt dafür – nun O-Ton Knut K.:, „dass ich nicht jedes Mal was Anderes erzähle, weil ich glaubwürdig bin, könnte ich mich auch wiederholen“. Vielmehr wolle er neue Einzelheiten erzählen. Sprach‘s und hielt weiße Briefumschläge mit jeweils einem Foto der vermissten Bilder hoch. „Damit habe ich Dr. Martin Hoernes, den Generalsekretär der ,Ernst von Siemens‘-Kunststiftung überzeugt, sich an der Wiederbeschaffung zu beteiligen.“

Man habe dann im gegenseitigen Vertrauen und in großer Verschwiegenheit „ein Dreamteam“ gebildet, wie Kreuch bildhaft das konspirative Duo mit Hoernes nannte. Und auch, wenn es wie Kreuch zitierte – in Gotha heiße: „Weg ist weg und kommt nie wieder“ habe man das schier Unmögliche geschafft.

Hoernes, der Generalsekretär der Siemens-Stiftung – selbst Kunsthistoriker – berichtete, dass er und Kreuch sich in Erfurt in einem Hotelzimmer getroffen hätten. Er habe schnell erkannt, dass dies eine bedeutende Sache werden könnte. Man wollte alle Möglichkeiten einsetzen und handelte dabei ganz im Sinne des Stiftungsgründers, eines Enkels von Werner von Siemens: Der habe als Ingenieur der Stiftung den Auftrag gegeben: „Handelt schnell, unbürokratisch und großzügig“ – immer zugunsten von Kunst und Kultur. So sei man auch im Falle der gestohlenen Gothaer Gemälde an die Sache rangegangen.

Die Siemens-Kunststiftung hat übrigens bisher die Kosten für Transport, Logistik und Rechtsbeistand in Höhe von rund 50.000 Euro getragen. Eine Beteiligung „in angemessen sechsstelliger Höhe“ an den Kosten der Restaurierung stellte Dr. Hoernes bereits vorige Woche in Aussicht.

Abschließend erläuterte Prof. Dr. Stefan Simon, der Direktor des Berliner Rathgen-Forschungslabors, das die Echtheitsprüfung vorgenommen hatte, wie die vonstatten ging. Das Ergebnis der Experten sei eindeutig ausgefallen – die im September in Berlin präsentierten sind die am 14. Dezember 1979 in Gotha gestohlenen Bilder.

Die Bilder befänden sich in einem relativ guten Zustand und wurden durch deutliche, „fälschungssichere“ Merkmale wie ihr röntgenographisch erfasster Innenzustand, das Krakelee (Rissnetz) der Malschichten oder nachweisbare Restaurierungseingriffe der Vergangenheit als die Originale identifiziert, geht aus einer Pressemitteilung der Friedenstein-Stiftung hervor.

Auch alte Inventarnummern auf den Gemälderückseiten ließen keinen Zweifel. Einige von ihnen sind in kyrillischer Schrift – erinnern an die Zeit, als die Bilder 1945 und bis 1958 in der Sowjetunion Kunstbeute waren. Ebenfalls nachweisbar sind Spuren der nach dem Diebstahl 1979 entfernten Etiketten des Schlossmuseums.

Die derzeitigen Besitzer hatten eine abenteuerliche und mittlerweile größtenteils widerlegte Geschichte zur Herkunft der Gemälde parat. Bei der beriefen sie sich auf Aussagen ihrer inzwischen verstorbenen Eltern: Die hätten für eine Million DM die Ausreise einer befreundeten Familie erwirkt. Als Pfand seien ihnen die Bilder durch Gesandten der Stasi überlassen worden. Der nicht verhandelbare Verkaufspreis, den die Besitzer der Gemälde gegenüber OB Kreuch nannten, sollte ein Mehrfaches dieser Summe betragen.

Nachdem die Erbengemeinschaft den Anwalt gewechselt hatte – über Gründe, warum da so war, gibt es keine Auskünfte – hätten man nun, ohne Bedingungen zu stellen, die Gemälde der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha überlassen und auch sonst sich kooperativ verhalten, wie die Stiftung schriftlich informierte: „Die letztendlich möglich gewordene einvernehmliche Einigung sendet ein wichtiges Signal an die Besitzer von ursprünglich gestohlenem Kulturgut: Es finden sich immer Möglichkeiten, derartige Werke an ihren Herkunftsort zurückzubringen, auch Möglichkeiten für eine Vergleichszahlung, wenn professionell und realistisch verhandelt wird.“

Fälschung oder Original?
40 Jahre lang waren die Bilder fürs Publikum unzugänglich. Ebenso lange aber auch standen sie Kunsthistorikern, Wissenschaftlern und Kustoden nicht zur Verfügung.

Die Spezialisten des Berliner Rathgen-Instituts waren nun die ersten, die die Gemälde in die Hand bekamen. Deshalb, um zu prüfen, ob die ausgehändigten Werke Kopien sind oder tatsächlich die Originale. Dafür reichte natürlich nicht der Augenschein, ein Blick auf die Oberfläche. Vielmehr verschaffte man sich einen tiefen Einblick in die Strukturen der Leinwände, der Rahmen etc.

Prof. Dr. Stefan Simon, der Leiter des Rathgen-Instituts, schilderte am Montag voriger Woche sehr anschaulich, wie dank moderner digitaler Mikroskope und auch spezieller Röntgentechnik Schicht für Schicht und Bild für Bild im wahrsten Sinne des Wortes „durchleuchtet“ wurden:

Welche Details Auskunft gaben
UV-Fluoreszenzaufnahme des Brueghel-Gemäldes: Die Aufnahme zeigt zahlreiche Retuschen (dunkle Flecken) und bei früheren Restaurierungen nicht entfernte Firnisreste (grün/grau Schleier). In der Mitte der rechten Bildhälfte sieht man einen retuschierten und restaurierten Riss in der Holztafel.

Digitalmikroskopische Untersuchung der Gemäldeoberfläche des Frans-Hals-Bildes.

Rückstände eines von den Dieben entfernten Objektschildes des Schlossmuseums Gotha auf einer Gemälderückseite.
Vergleich von zwei Röntgenbildern des Lievens/Bol, die Pinselführung der bleiweißhaltigen Partien in Weiß und die Holzstruktur (Eiche) stimmen auf beiden Bildern überein und belegen, dass es sich um dasselbe Gemälde handelt. Links: Aufnahme aus dem Archiv des Radiologen M. Meier Siem (1966, heute im Deutschen Röntgenmuseum Remscheid), rechts 2019.

Vergleich von zwei Röntgenbildern des van Dyck. Die Defekte der handwerklich hergestellten Leinwand, der Kett- und Schussfäden, sind auf beiden Bildern identisch, ebenso wie die Pinselführung der bleiweißhaltigen Partien in weiß, was belegt, dass es sich um dasselbe Gemälde handelt. Links: Aufnahme aus dem Archiv des Schlossmuseums Gotha, vor 1979, rechts 2019.

Untersuchung mit ultraviolettem Licht an den Gemälden im Rathgen-Forschungslabor.“
Fotos: Rathgen-Forschungslabor, Staatliche Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Herkunft der Bilder neu bewertet
Dieser genaue Blick auf die Bilder führt auch dazu, dass für drei Bilder die Herkunft neu bestimmt werden wird:

Frans Hals (Antwerpen um 1580 – 1666 Haarlem)
Brustbild eines unbekannten Herrn mit Hut und Handschuhen, um 1535
Öl auf Leinwand · 64 x 52 cm · Inv.-Nr. SG 690
Seit 1868 in den Sammlungen nachweisbar.

Das „Brustbild eines unbekannten Herrn“ galt lange als eigenhändige Arbeit von Frans Hals  (1580-1666). Der Flame gehörte zu den bedeutendsten Malern des Goldenen Zeitalters und war ein Porträt-Spezialist. 1974 wurde dieses Bild dann aber zum „Werkstattbild“ degradiert.

Freudige Überraschung indes nun – jetzt gilt es wieder als „echter“ Frans Hals.

Foto Lievens_VIS_RF_SPK
Neue Zuschreibung: Ferdinand Bol (Dordrecht 1616 – Amsterdam 1680)
Bildnis eines alten Mannes, nach 1632
Öl auf Eiche · 65 x 50 cm · Inv.-Nr. SG 700
Seit 1799 in den Sammlungen nachweisbar.

Das mit Öl auf Eichenholz gegebene Brustbild ist kein Porträt, sondern ein sogenanntes Tronie, also eine Charakterstudie, die exemplarisch die Mühen und Lasten des Alterns veranschaulichen soll. Statt bisher Jan Lievens schreibt man die Arbeit nun eher Ferdinand Bol (1616-1680), einem anderen Rembrandt-Schüler, zu.
Herzog Ernst II. hatte das Bild seinerzeit noch als echten Rembrandt angekauft.

Unbekannter Künstler nach Anthonis van Dyck (Antwerpen 1599 – 1641 London)
Selbstbildnis mit Sonnenblume, nach 1633
Öl auf Leinwand · 61 x 71 cm · Inv.-Nr. SG 683
Seit dem 19. Jahrhundert in den Sammlungen nachweisbar.

Unstrittig um eine zeitgenössische Kopie handelt sich bei dem Bildnis Anthonis van Dycks (1599-1641) nach dessen Selbstporträt, das sich im Besitz des Duke of Westminster befindet.

Jan Brueghel d. Ä. (Brüssel 1568 – 1625 Antwerpen), Werkstatt?
Landstraße mit Bauernwagen und Kühen, um 1610
Öl auf Eichenholz · 45 x 66 cm · Inv.-Nr. SG 668

Die „Landstraße mit Bauernwagen und Kühen“ wird nun nicht mehr Jan Brueghel d. Ä. (1568-1625) zugeschrieben. Experten zweifeln dies an, weil Details des Gemäldes nicht jene Perfektion und Meisterschaft des großen Meisters aufweisen, der sich auf solche Landschaftsbilder spezialisiert hatte. Unbestritten aber bleibe die Herkunft aus der Werkstatt des Flamen.

Der „Zigeuner-Brueghel“
Das ist übrigens das einzige der fünf Gemälde, was im Zuge eines Gerichtsverfahrens zu DDR-Zeiten schon einmal eine Rolle spielte. Beim Prozess im Frühjahr 1979 gegen sechs Beschuldigte, die im Jahr zuvor u. a. in Gothaer Kirchen eingebrochen waren, gab einer – wie schon während der Vernehmungen im Herbst 1978 – zu Protokoll, er habe den Auftrag gehabt, dieses Bild, das er den „Zigeuner-Brueghel“ nannte, zu beschaffen. Begehrlichkeiten danach entwickelte demnach ein Antiquitätenhändler aus dem Harz – Otto W. aus Blankenburg.

Auf den war damals auch Gerd Schlegel gestoßen. Der Gothaer Kriminalist hatte die Ermittlungen zur Einbruchsserie in die Kirchen geführt. Eine Spur führte in den Harz. Deshalb fuhren Schlegel und zwei seiner Leute zu den Kollegen der Kripo in Wernigerode. In einer Scheune auf einer Streuobstwiese in Westerhausen (Harz) fand man dann das Gothaer Diebesgut und weitere Beute: „Ich habe zum Beispiel den Bildstock aus dem Heu ausgebuddelt.“

Dieser Scheunenfund wiederum führte zu eben jenen Otto W. Der derweil Verstorbene sei „eine schillernde Figur in dem realsozialistischen Land“ gewesen, schrieb die ZEIT im vorigen Dezember über ihn: „Er war unter anderem als Pferdehändler und Betreiber einer Kneipe tätig, war aber im planwirtschaftlich organisierten Staat auch durch Spekulationsgeschäfte mit Gold aufgefallen – und arbeitete mit der Staatssicherheit zusammen.“

Eben diesem Otto W. rückten dann Schlegel & Co. auf die Pelle, machten eine Hausdurchsuchung: „Wir haben uns nicht getraut, uns zu bewegen. Wir dachten, wir sind in einem kunsthistorischen Museum. Dort standen die feinsten, edelsten Antiquitäten aus allen Kunstrichtungen und allen Jahrhunderten bis in die Gegenwart. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen – das war frappierend.“ All das in einem ehemaligen Stallgebäude, das innen auf zwei Etagen ausgebaut war. Die Wernigeröder Kriminalisten hätten W. länger schon länger auf dem Schirm gehabt, „weil er u. a. ständig in den Westen fuhr“, erinnert sich Schlegel.

Dass der Mann mit den Serieneinbrüchen in Gotha zu tun hatte, war augenscheinlich und sollte deshalb vor Ort geklärt werden. „Deshalb haben wir ihn vorläufig festgenommen und sind über den Harz in einer wirklichen Nacht- und Nebelaktion nach Gotha zurückgekehrt. Das war damals wie Fahren in Watte“, erinnert sich Schlegel, der solch dichten Nebel seither nicht mehr erlebt hatte.

Eine andere Art von Nebel legte sich dann in der Folgezeit auf diese Geschichte. Kaum in Gotha angekommen, musste Schlegel das Verfahren und seinen Hauptverdächtigen Otto W. an die Erfurter Bezirksdirektion der Volkspolizei (BDVP) Erfurt abgeben. „Formell korrekt, weil es ab bestimmter Größe oder bestimmten Umfang von Kriminalität dann Sache der Erfurter war.“

Es kam – wie schon beschrieben – zum Verfahren. Im zeitigen Frühjahr 1979 wurde das diebische Sextett aus Gotha verurteilt und in Haft genommen. Allerdings kamen sie bald wieder frei, denn im Sommer gab es aus Anlass des 30. Gründungstages der DDR eine Generalamnestie.

Otto W. hingegen war schon kurz nach seiner Überstellung an die Erfurter BDVP seit November 1978 wieder auf freien Fuß und daheim. „Was da im Hintergrund gelaufen ist, weiß ich bis heute nicht“, sagt Gerd Schlegel 40 Jahre danach.

Unklar indes: Seit Herbst 1978 war offenkundig, dass die Friedenstein-Sammlungen in den Fokus von Kriminellen gelangt waren. Dennoch änderte sich nichts am Sicherheitskonzept. Dessen Überarbeitung hatte Heinz Wiegand, der seit 1973 und bis zu seiner Pensionierung 1986 Direktor des Schlossmuseums war, schon zu Amtsantritt gefordert. In der Folge wurde dann zwar nach und nach ein Teil des Grundstücks umzäunt. Typisch DDR fehlte es aber dann an Material, dieses Projekt abzuschließen. Selbst eine lückenlose Außenbeleuchtung des Schlosses kam bis zum Einbruch 1979 nicht zu Stande. Und dass die nach zähem Ringen dann genehmigte Alarmanlage zwar weitgehend installiert, aber eben nicht voll funktionstüchtig und daher nicht scharf geschalten war, rundet das Bild nur ab.

Das „Trauma von Gotha“
Gothas Oberbürgermeister Knut Kreuch war es, der 2009 erstmals vom „Trauma von Gotha“ sprach und damit die Verluste der Sammlungen auf Schloss Friedenstein meinte. Vor einem Jahrzehnt hatte Kreuch den Begriff aufgebracht, als er mit einer breiten Medienkampagne versuchte, neue Spuren zu den geraubten Gemälden aus dem Jahr 1979 zu finden. Deshalb, weil damals die Straftat des Einbruchs und Diebstahls nach bundesdeutschem Recht verjährte. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte.

„Nur auf 1979 zu blicken, ist zu kurz geschaut“, so Kreuch. „Die Verluste Gothas begannen viel früher und haben maßgeblich dazu beigetragen, den Wert der Gothaer Sammlungen im internationalen Maßstab zu verdrängen. Die Rückkehr der Gemälde muss der Aufbruch ins Welterbe werden.“

Bei der Pressekonferenz am 20. Januar in Gotha verdeutlichte dann Dr. Tobias Pfeifer-Helke, der Stiftungsdirektor und Vorstand der Stiftung Schloss Friedenstein, dieses „Trauma von Gotha“: Mehr als 1.300 Kunstgegenstände sind es, die aus dem Bestand der Gothaer Sammlungen verschwanden. Dazu gehören 435 Gemälde. Vor allem die reichhaltige und von der Kunstwelt und den Fachleuten geschätzte Sammlung niederländischer Malerei, die einst 217 Bilder vereinte, verlor mit 106 Werken fast die Hälfte.

Wie es weitergeht
Friedenstein-Direktor Pfeifer-Helke kündigte an, dass nach der einwöchigen Präsentation der Bilder deren Restaurierung anstehe.

Nicht nur die Umstände des Diebstahls vor 40 Jahren haben heute noch sichtbare Spuren hinterlassen. Auch diejenigen, die dann dieses kunsthistorisch wertvolle Diebesgut vereinnahmt hatten, hinterließen Spuren. So finden sich Spritzer von Wandfarbe auf dem Brueghel-Bild, neue Rahmen wurden unprofessionell angebracht, vermutlich versuchte man sich auch als Restauratoren, was augenscheinlich misslang.

Pfeifer-Helke versicherte, dass man nun „die besten Fachleute für die professionelle Restaurierung“ finden wolle. Er veranschlagte mindestens ein Jahr für diese Kur. Das dürfte eine echte Herausforderung für alle Beteiligten sein: Solche Wiederherstellungen eines früheren, originalen Zustandes begleiten nicht selten Überraschungen, die dann den zeitlichen Aufwand wachsen lassen.

Am Mai 2021 aber sollen dann diese fünf besonderen Edelsteine der Friedenstein-Sammlungen, die eine ausgesprochen wechselvolle Biografie haben, in einer längeren Sonderschau zu sehen sein.

Was wird mit der Erbengemeinschaft?
Nach geltendem deutschen Recht verjährt ein Anspruch auf Herausgabe von Diebesgut nach 30 Jahren – also im speziellen Falle schon seit einem Jahrzehnt.

Strafrechtlich scheint das anders, denn das Landeskriminalamt Berlin ermittelt wegen des Verdachts der Erpressung. Dieser Straftatverdacht ergab sich aber erst nach dem Auftauchen der Gemälde im September 2019 und den von der Erbengemeinschaft erhobenen Forderungen. Im LKA Berlin gibt es eine für Kunstdelikte zuständige Abteilung, zu der René Allonge gehört. Er gilt als einer DER Experten in Sachen Kunstdiebstahl. So überführte er jene Täter, die im März 2017 eine 100 Kilo schwere Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum stahlen.

Im Falle des Gothaer Kunstdiebstahls wurden er und seine Abteilung von Juristen der Berliner Museen informiert. Als dann die fünf Gemälde zur Echtheitsprüfung im Rathgen-Labor übergeben wurden, war deshalb ein verdeckter Ermittler des LKA dabei. Allonge sagte nun dieser Tage der dpa zum Stand der Ermittlungen: „Die an der Erpressung beteiligten Personen sind bekannt.“ Anhaltspunkte für Hehlerei gebe es nach seiner Schilderung allerdings nicht.

Das LKA befasse sich nun auch mit dem Weg der Bilder. Es gebe Hinweise dafür, dass sie erst in den 1980er-Jahren in den Westen gelangt seien. Bei der Rekonstruktion, wie die Bilder aus der DDR in die BRD kamen, sei man aber noch am Anfang.

„Oscar am Freitag“-Experte Gerd Schlegel, der 1979 als Kriminalist über Monate führend an dem Fall mitarbeitete, teilt diese Sichtweise nicht: „Das Ministerium für Staatssicherheit hat sofort eigene Ermittlungen angestellt und in seinen Akten dokumentiert. Die müssten bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen sowohl in Erfurt als auch in Berlin zusammengetragen und ausgewertet werden. Denn mindestens an diesen beiden Orten wurde nachweislich im Fall des Gemäldediebstahls gearbeitet.

Die jüngst präsentierten 500 Seiten Unterlagen können keinesfalls alles dokumentieren, was beim MfS zusammengetragen oder selbst angelegt worden ist. Es war üblich, dass von den Unterlagen, die in den Dienststellen der Volkspolizei gefertigt wurden, Duplikate an die Dienststellen des MfS übergeben werden mussten. Das können schon mal locker 500 Blatt gewesen sein. Nur das ,eigene‘, in den MfS-Dienststellen angelegte Papier wird das Handeln dieser Dienststellen dokumentieren. Und erst nach dem Auswerten dieser Dokumente sind verlässliche Schlussfolgerungen möglich.“

Schlegel hält es eher für eine falsche Fährte und Legende, dass das MfS und die dort angegliederte Bereich Kommerzielle Koordinierung, kurz KoKo genannt, alleiniger Auftraggeber für den Diebstahl der Gemälde waren. „Ohne Mitwirkung, zumindest Duldung durch das MfS wäre es allerdings unmöglich gewesen, die Gemälde in die BRD in den 1980er-Jahren zu schaffen“, so Schlegel

Zur Erklärung: Die KoKo war 1966 im damaligen Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel (MAI) der DDR gegründet worden. Zuletzt von Alexander Schalck-Golodkowski geleitet, hatte die KoKo die Aufgabe, mittels eigener Firmen und Firmenbeteiligungen auch außerhalb der DDR sowie andere Geschäfte maximalen Gewinn in „harter Währung“ zu beschaffen und hatte deshalb eine inhaltliche wie rechtliche Sonderstellung in der DDR. Nach unterschiedlichen Quellen soll der Bereich KoKo so über 25 Milliarden D-Mark erwirtschaftet haben und trug dazu bei, die Defizite in der Handelsbilanz der DDR zu begrenzen und akuten Kreditbedarf kurzfristig zu bedienen.

Wo waren die Bilder nun tatsächlich?
Allerdings ist tatsächlich nicht klar, wo genau die Bilder waren. Gothas OB Knut Kreuch bestätigte im dpa-Interview, dass sie gewiss in Deutschland gewesen sein. Er interpretierte Details jener Fotos, die er seit Oktober 2018 in fünf Briefumschlägen immer bei sich trug: „Frans Hals hing irgendwo in einem Esszimmer.“ Auf dem Brueghel seien weiße Farbtupfer, wohl von einem Zimmeranstrich und auf einem der Fotos glaubte er, Raufasertapete zu erkennen.

 

 

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