Dieser „Wenzel“ sticht beim Corona-Risikomanagement

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Seit Anfang des Jahres nutzt das Landratsamt Gotha ein spezielles Analyse-Werkzeug für sein Pandemie-Management. Das öffentlich zugängliche Werkzeug hat der aus Gotha stammende Risikomanagement-Experte Andreas Wenzel entwickelt. Foto: privat

Gotha (red/ra, 5. Februar). Seit Anfang des Jahres nutzt das Landratsamt Gotha ein spezielles Analyse-Werkzeug für sein Pandemie-Management.

Landrat Onno Eckert nutzt das öffentlich zugängliche Werkzeug schon länger. Entwickelt hat es der aus Gotha stammende Risikomanagement-Experte Andreas Wenzel.

Morgens gegen acht Uhr zapft das Modell die Daten aus dem Nachtlauf des Robert-Koch-Institutes an und ermittelt daraus die spezifischen Reproduktionszahl – auch R-Wert genannt – oder die geschätzte Zeitdauer für die Verdoppelung oder Halbierung täglicher Neuinfektionen im Landkreis. Verläufe der wichtigsten Kennzahlen und Trends werden zudem in Diagrammen veranschaulicht.

Wenzels Methode bringt vor allem Gewinn an Zeit: Sie überwindet die Lücke zwischen Abstrich, Laboranalyse und Mitteilung des Befundes, ermöglicht eine seriöse Schätzung der zum jeweiligen Tag Erkrankten.

„Die Darstellung soll Transparenz verschaffen, also interessierten Betrachtern vermitteln, auf welchen Grundlagen Entscheidungen im Pandemiemanagement getroffen werden. Und wir möchten mit diesem erweiterten Informationsangebot auch noch einmal zeigen, wie ernst die Lage ist“, begründete Eckert den Schritt, wesentliche Teile des Analyseinstruments auf der Homepage des Landkreises öffentlich zu machen (siehe auch die Website).

„Oscar am Freitag“ hat Andreas Wenzel interviewt, der in Gotha aufwuchs und seine Ausbildung zum Bankkaufmann ab 1997 bei der Kreissparkasse Gotha machte:

Wann und warum haben Sie ein eigenes Analysetool entwickelt?
Mit der Modellierung der Pandemie habe ich Mitte März vorigen Jahres begonnen. Da hatten wir auch die ersten noch sehr einfachen Schätzungen. Das war sogar, noch bevor es andere öffentliche Schätzungen zum Pandemieverlauf routinemäßig gab.
Wenn wir eher ein klares Bild haben, lässt sich zeitiger und sicherer entscheiden und handeln. Da es meist aber einige Tage dauert, bis Menschen einen Arzttermin haben, die Labordiagnostik durchgeführt ist und die Meldung vorliegt, haben wir zur Bewertung des aktuellen Infektionsgeschehens eine recht ordentliche Informationslücke. Die Inkubationszeit von der eigentlichen Ansteckung kommt noch dazu. Das ist bei einem sehr dynamischen Pandemieverlauf sehr wertvolle Zeit.
Ziel ist, diese Informationslücke mithilfe dieses Modells zu schließen und durch Hochrechnungen aktueller im Bilde zu sein. Hier reden wir über etwa drei bis fünf Tage Zeitgewinn, die ein derartiges Modell – wenn auch unter Unsicherheiten – quasi auffüllen kann.

Laien dürften Ihr Tool nicht sofort verstehen. Geben Sie uns bitte eine kurze „Bedienungsanleitung“ für jene, die es dennoch tun wollen?
Stellen Sie sich einfach vor, jeder hätte genau in dem Moment, in dem Covid-19-Symptome erstmals auftreten, eine Ärztin oder einen Arzt an seiner Seite, der einen Test durchführt und es läge sofort ein Ergebnis vor, das sofort gemeldet wird. Das ist der Informationsstand, den das das Modell herzustellen versucht, um die Infektionslage auch in der zeitlichen Abfolge zeitnah abzuschätzen. Das bekommen wir mit de, Modell in etwa für Fälle mit Erkrankungsbeginn vor fünf bis sieben Tagen ganz gut hin, und ohne Modell haben wir nach zehn bis 14 Tagen ein einigermaßen vollständiges Bild – abgesehen von der Dunkelziffer, die immer im Hintergrund mitschwingt.
Die Methodik dahinter ähnelt der Logik im Supermarkt-Regal: Wenn Sie vorne den Käse sehen, dessen Mindesthaltbarkeit in ein paar Tagen abläuft, dann erahnen Sie, dass sich dahinter oder irgendwo an anderer Stelle auf dieser Welt sehr wahrscheinlich noch ein paar Packungen jüngeren Datums verstecken. So ähnlich denkt das Modell auch. Es versucht aus dem aktuell Sichtbaren und dem, was wir darüber wissen, auf Basis von Erfahrungswerten Rückschlüsse auf das zu ziehen, was wir noch nicht sehen.

Screenshot: OaF (Website)

Was kann das Modell besser oder anders als andere?
Inzwischen glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass jeder ein Bild hat, wie die Lage im eigenen Umfeld ist. Auch das kann ein Ansatz zur Lösung sein. Zahlen für ganz Deutschland sind einfach zu abstrakt.
Grundsätzlich orientiere ich mich am Aufbau des RKI-Modells. In den Feinheiten fließen aber noch einige Praxiserfahrungen aus meiner bisherigen Arbeit ein. So verzeichnen wir auf Bundesebene von April an etwa 30 % weniger Ausreißer in den Hochrechnungen der Meldelücke. Das bringt mehr Stabilität und Verlässlichkeit in die Kennzahlen. Diese Stabilität schafft erst die Voraussetzungen für die Anwendung auf kleineren der Ebene eines Landkreises, wo wir nicht mehrere tausend Fälle am Tag haben, sondern 20, 50 oder 100.
Generell gilt aber: Das Modell, das man verstanden hat und mit dem man umgehen kann, ist immer das bessere.

Welche Werte spielen eine Rolle und woher haben Sie die Daten?
Wir erzeugen eine Reproduktionszahl. Die beschreibt, wie viele Personen ein Infizierter etwa ansteckt. Daraus ergibt sich auch die Verdopplungs- oder Halbierungszeit, welche sich hier auf die Anzahl der täglichen Neuinfektionen bezieht. Mit dieser wird abgeschätzt, nach welcher Zeit wir bei Fortsetzung der beobachteten Dynamik doppelt oder halb so viele Neuinfektionen zu verzeichnen hätten.
Um diese Trends einzuschätzen, genügt der Blick auf die Meldezahlen nicht: Die Daten kommen ja alle mit Zeitverzug an. Doch der ändert sich, und das teilweise deutlich. Manche Ausbrüche werden sehr zeitig erkannt und eingedämmt. Da ist ein Mehr an Meldungen von heute möglicherweise die vermiedene Folgeinfektion von morgen. Andere Fälle werden erst deutlich später bekannt, einige sogar so spät, dass sie mit dem aktuellen Infektionsgeschehen kaum noch tun haben. Das Modell ist vereinfacht ausgedrückt eine „Sortiermaschine“, die die Fälle nach dem wahrscheinlichsten Zeitpunkt der Infektion bzw. des Erkrankungsbeginns ordnet und den vermutlichen Rückstau abschätzt. Eingangsdaten dafür sind die täglich aktualisierten Falldaten des RKI für den Landkreis, bei denen verschiedene Parameter zu den Fällen auch mitgeliefert werden. Hier knüpfen die meisten Modelle an.

Warum weichen in Thüringen die Daten der Gesundheitsämter von denen des zuständigen Ministeriums und denen des RKI ab?
Das ergibt sich aus der Übermittlungskette der Falldaten. Diesbezüglich ist das örtliche Gesundheitsamt aktueller im Bilde als das RKI, das dann über die Landesämter einmal täglich die Daten übermittelt bekommt und diese dann im Nachtlauf zusammenführt.
Wenn wir morgens in die Zahlen des RKI schauen, ist das etwa der Stand vom Nachmittag des Vortages. Inzwischen sind in den Gesundheitsämtern aber neue Fälle bekanntgeworden.
Im Laufe der Pandemie hat sich aber auch gezeigt, dass der tagesaktuelle Meldestand allein recht wenig aussagt. Der Datenstand insgesamt ist schon sehr konsistent.

Wer nutzt Ihre Methode außer Ihnen und dem Landkreis Gotha?
Das Analysemodell für den Landkreis ist auf der Ebene erst in den vergangenen Monaten durch den Anstieg der Fallzahlen im Herbst so entstanden. Es knüpft an die Modelle für Deutschland und Thüringen an.
Eine derartige Pilotierung heißt, erstmal hier nah dran zu sein. Es ist eine Premiere, die nun vor einigen Tagen den Stand erreicht hat, dass wir andere Kreise, Regionen oder kreisfreie Städte ähnlich anbinden können.

Kam der Landkreis auf Sie zu oder haben Sie sich angeboten?
Ich hatte im Frühjahr 2020 mehrere Institutionen, darunter das Landratsamt Gotha, angeschrieben und meine Unterstützung angeboten. Landrat Onno Eckert hatte, erst als stiller Mitleser, dann in engerem Austausch, meine Arbeit im Internet verfolgt und begleitet. Dass der Landkreis und ich dann auch offiziell eine Kooperation eingegangen sind, freut mich und war irgendwie in der Folge logisch.

Haben Sie auch anderen Kommunen, dem Thüringer Gesundheitsministerium oder dem RKI Ihr Tool angeboten?
Ja. Auf der Bundesebene ist die Arbeit derzeit eher wissenschaftlich getrieben. Was gut funktioniert, sind fachliche Hinweise in Richtung RKI oder Gesundheitsministerium. Die werden auch praktisch aufgegriffen. Die Ermittlung eines stabileren 7-Tage-R-Wertes war ein solcher Hinweis von mir, der im Mai sogar binnen drei Tagen umgesetzt wurde. Aber ein einmal eingeführtes Modell ändert man nicht „mitten im Gefecht“, auch wenn es sicher Argumente dafür gäbe. Jetzt zum Jahreswechsel gab es einige falsche Datumseingaben, der Klassiker im neuen Jahr. Auch für sowas gibt es „kurze Dienstwege“, die im Sinne der Sache inzwischen gut funktionieren.
Hier in Thüringen hatte sich die Lage erst im Herbst recht dynamisch zugespitzt. Das Modell hat etwa bei einer Inzidenz von 15-20 Fällen in sieben Tagen je 100.000 Einwohnern signalisiert, dass der Weg über die nächsten Schwellwerte sehr wahrscheinlich sehr kurz sein würde bzw. wir nach Ansteckungen wahrscheinlich schon bei 50 waren als wir in den Meldezahlen erst 20 beziffern konnten. Das zeigt die, wie groß die Dynamik innerhalb weniger Tage werden kann. Der Weg zurück ist hingegen lang. Natürlich gibt es dazu Angebote meinerseits.

Meinungsforschungsinstitute liefern zu Wahlen von Jahr zu Jahr weniger zuverlässige Voraussagen. Sie blicken ja auch in die Zukunft – was unterscheidet Ihre Prognosen von denen von Wahlforschern?
Während die Meinungsforschung versucht Zukunftsprognosen abzugeben, sind wir froh, wenn wir die Gegenwart realistisch einschätzen können. Dies haben die vergangenen Tage deutlich gezeigt. Selbstverständlich gibt es Ungewissheiten. Diese sind in kleinen Einheiten wie Landkreisen auch relativ gesehen größer.
Rein modelltheoretisch haben wir gegenüber den Meinungsforschungsinstituten trotzdem mehrere Vorteile: Einerseits ergeben sich die Hochrechnungen aus bereits bekannten Ereignissen, nicht aus Meinungen. Andererseits können wir die Modellergebnisse für 16 Bundesländer und inzwischen über 250 Tage täglich mit den Meldungen abgleichen und auch validieren. Das ermöglicht vielfach schnellere Lernprozesse als bei Wahlen, die nur selten stattfinden.
Andererseits gilt: Die Informationslücke verschwindet nicht dadurch, dass wir die Hochrechnung weglassen. Im Gegenteil: Die Hochrechnung lässt die Lücke überhaupt erst sichtbar und vorstellbar werden. Und selbstverständlich haben wir durch die Erfahrungswerte auch eine Idee davon, dass es einen Prognosefehler gibt und wie groß dieser in bestimmten Phasen typischerweise sein kann. Das Modell kann das sogenannte Grundrauschen recht gut erfassen. Wenn aber plötzlich ein Ausbruch mit mehreren Ansteckungen auf einmal kommt, gerät ein Modell immer an Grenzen. Im Moment sind die Ungewissheiten beispielsweise durch die Mutation wieder größer.
Aus diesem Grund gehört ein gesunder und kritischer Blick immer dazu. Kein Modell ersetzt den gesunden Menschenverstand. Es kann aber aufzeigen, womit wir uns befassen sollten. Das Gesundheitsamt kennt die Fälle, die in das Modell einfließen, ja auch ganz praktisch.

Wenn Sie nicht Corona-Risiken berechnen, was machen Sie dann als Risikomanager?
Im Moment ist es tatsächlich fast ein Vollzeit-Job. Ich hoffe, dass sich das mit der Automatisierung nun etwas legt.
Bei Unternehmen geht es nicht nur darum, jedes Risiko zu vermeiden, sondern bewusst mit Chancen und Risiken umzugehen.
Um einige Einblicke in die letzten Projekte zu geben: Wir haben im Herbst mit einer Brauerei die Ertrags- und Absatzrisiken bewertet, die sich durch die Pandemie ergeben.
Einige VR-Banken habe ich in den vergangenen Jahren bei der Aktualisierung des Risikoprofils und im Zinsmanagement unterstützt. Negative Zinsen sind ein großes Thema. Jetzt kommt die Pandemie dazu.
Und voriges Jahr habe ich eine größere Verkehrsgesellschaft dabei begleitet, die Personaleinsatzplanung und -disposition bis hinein in die Leitstelle mithilfe prädiktiver Modelle vorausschauender zu organisieren. So können mögliche Engpässe früher erkannt und behoben werden. Auch dort ging es um Zeitgewinn. Das spart allen Nerven.
Die Einsatzgebiete sind vielfältig und das macht es so interessant und abwechslungsreich.

Herzlichen Dank für das aufklärende und sehr informative Gespräch!

(Das Interview führte Rainer Aschenbrenner. Es erschien zuerst im „Oscar am Freitag“, Ausgabe Gotha, am 29. Januar 2021.)

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