Die erstaunliche Renaissance des Zauberwürfels

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Für manch einen ist er ein Relikt aus den 80-ern, das einen selbst rückblickend noch zur Verzweiflung treibt: der Zauberwürfel, nach seinem Erfinder auch Rubiks Cube genannt. Tatsächlich aber waren die genialen Puzzles, die das logische Denken und die Feinmotorik der Hände fördern, nie von der Bildfläche verschwunden. Im Gegenteil: Das Lösen des Zauberwürfels hat sich zum internationalen Wettkampfsport entwickelt. Die offiziellen Wettbewerbe unter der strengen Aufsicht der World Cube Association (www.worldcubeassociation.org) erlauben es den Würfelgenies, sich mit Athleten aus der ganzen Welt zu messen. Gegründet wurde die „WCA“ von dem Holländer Ron van Bruchem und dem Amerikaner Tyson Mao im Jahre 2004. Dreißig Jahre, nachdem der ungarische Architekturprofessor Ern? Rubik den magischen Würfel erfunden hatte, um das räumliche Denken seiner Studenten zu fördern.

Eine erste Zauberwürfel-Weltmeisterschaft, die 1982 in Budapest stattfand und deren Sieger beinahe 23 Sekunden benötigte, um den klassischen Würfel zu lösen, fand keine Fortsetzung. Erst seit 2003 und seither im 2-Jahres-Rhythmus wird wieder offiziell um WM-Plätze gekämpft. „Speedcuber“ nennen sich die Athleten und ihre Zahl wächst weltweit zusehends. Ein geniales Puzzle, das 1980 Deutschlands „Spiel des Jahres“ wurde, erlebt eine erstaunliche Renaissance als (Denk-)Sportgerät. Heute hält übrigens der Australier Feliks Zemdegs den Weltrekord – mit durchschnittlichen 6,54 Sekunden.

Munich Open. 115 Teilnehmer aus 9 Ländern haben sich zum Turnier angemeldet, vom Jungspund bis zum Herrn im mittleren Alter. Damen sind noch seltener anzutreffen, ihr Anteil nimmt aber stetig zu. In den folgenden zwei Tagen werden die Wettkämpfer von frühmorgens bis in die späten Abendstunden hinein volle Konzentration aufbringen müssen. Am selben Wochenende treffen sich auch Speedcuber in Arizona und Michigan, in Peru, Polen und Rumänien oder im australischen Melbourne. Die internationalen Resultate kann man nahezu in Echtzeit im Internet verfolgen, aufbereitet in akribisch geführten Statistiken. Die Münchner stellen sich also nicht nur den Konkurrenten vor Ort. Sie kämpfen immer auch um Plätze in der Weltrangliste und um neue Rekorde.

Der Variantenreichtum der verschiedenen Würfel und anderer interessanter Gebilde ist beeindruckend. Der klassische Würfel mit 3 x 3 Feldern pro Seite hat viele Geschwister bekommen. 2 x 2- bis 7 x 7-Würfel sind turnierfähig. Der „Square-1“ löst die herkömmliche Würfelstruktur auf, die Megaminx (ein Dodekaeder) und die Pyraminx (eine Pyramide) stellen ebenso besondere Herausforderungen wie die „Rubiks Clock“ mit ihren 2 x 9 Zifferblättern, die synchronisiert werden wollen. Klassische Würfel bis 5 x 5 werden dabei auch blind enträtselt, der 3 x 3-Klassiker alternativ einhändig oder mit den Füßen. Das Lösen mit so wenigen Zügen wie möglich ist gleichermaßen eine Disziplin wie „Multiple Blindfolded“, das Einprägen und anschließende Blindlösen so vieler Cubes wie möglich in Stundenfrist.

Dabei bleibt nichts dem Zufall überlassen. Damit jeder Teilnehmer mit denselben Voraussetzungen ins Rennen geht, werden alle Würfel eines Durchgangs auf identische, von einem Computeralgorithmus vorbestimmte Weise in Unordnung gebracht (gescrambelt). Ein Kampfrichter bringt den Würfel abgedeckt an den Platz des Kandidaten. Nachdem der Deckel gelüftet ist, hat dieser 15 Sekunden Zeit, das Dilemma zu begutachten, den Würfel vor sich abzulegen und mit dem Auslösen der Stoppuhr den Lösungsvorgang zu beginnen. Jedes einzelne Ergebnis wird dokumentiert und abgezeichnet. Damit der Wettbewerb offiziell ist, muss mindestens einer der beiden deutschen WCA-Delegierten anwesend sein, die mit Adleraugen über da Geschehen wachen, im Zweifelsfall Entscheidungen treffen, aber auch selbst noch voller Enthusiasmus mitmischen.

In München sind gleich beide Offizielle vor Ort. Einer von ihnen ist momentan sehr frustriert. Er hat seinen gelösten Würfel einen Tick zu schwungvoll abgelegt. Deshalb befinden sich zwar alle Farben am richtigen Platz, die letzte Ebene ist aber noch ein klein wenig aus dem Lot, um etwas mehr als um 45°. Das gibt zwei Sekunden Zuschlag und die haben beinahe mehr Gewicht als eine Zeitstrafe bei der Formel 1. Eben erst hat der WCA-Delegierte in einem ähnlichen Fall bei einem jungen Teilnehmer zugunsten des Angeklagten entscheiden können. Sich selbst muss er nach den Regeln abstraften – auf Kosten eines neuen persönlichen Rekords.

Apropos Formel 1. Natürlich benutzen die Speedcuber keine ladenneuen, sondern individuell modifizierte Würfel. Mehr als zwei Dutzend Firmen, zumeist mit Sitz in China, bringen ständig neue Modelle auf den Markt. Wenn die Päckchen aus Fernost beim Sportler eintreffen, werden die Würfel in aller Regel demontiert, peinlich genau gesäubert und mit einem speziellem Silikon-Öl „fluffig“ gemacht. Schrauben werden justiert und gelegentlich kommt auch die Feile zum Einsatz. Wer etwas auf sich hält, macht diesen Job selbst, es gibt aber auch Dienstleister, die das Tuning übernehmen. Diverse Internetläden bieten die Würfel an, manche haben sich sogar ausschließlich auf Sticker und Silikon spezialisiert.

In Internetforen wie www.speedsolving.com oder www.speedcubers.de wird eifrig aus dem Nähkästchen geplaudert. Kaum einer behält neue Erkenntnisse, Taktiken und Algorithmen für sich, die Szene ist eine sehr kameradschaftliche. Neben der Hilfsbereitschaft dominiert der gleiche Sinn für schrägen Humor.

Wer einen Speedcuber bei sich zuhause beherbergt, braucht Nerven wie Drahtseile. Das Würfellösen ist eine Leidenschaft, der man viel Freizeit opfern muss, wenn man ganz vorne mitmischen möchte. Das konstante Klackern malträtierter Plastikwürfel kann die Lebensqualität im heimischen Wohnzimmer empfindlich einschränken. Aber der Filius hätte sich ja auch für das Instrument Tuba entscheiden können.

In den Medien ist der Rubiks Cube omnipräsent. Er gehört nicht nur zur ständigen Deko der Hitserie „The Big Bang Theory“. Man entdeckt Zauberwürfel in der Ausstattung vieler großer Hollywoodfilme von „Super 8“ über „R.E.D. 2“ bis „The Amazing Spider Man“. Großartig ist die Würfelszene im Vampirdrama „So finster die Nacht“ und dem Remake „Let Me In“. Sogar bei Til Schweigers computeranimiertem „Keinohrhasen“ gehört er zum Inventar. Manchmal soll der Würfel illustrieren, dass man sich in den 80-ern befindet. Viel häufiger aber bringt er zum Ausdruck, dass man es hier mit wirklich klugen Zeitgenossen zutun hat.

In München dominiert der bärenstarke Bence Barát das Geschehen. Fünf von sechzehn Disziplinen kann der Ungar für sich entscheiden. Aber auch Lucas (15) und Gregor (16) machen sich zufrieden auf die Heimreise, viereinhalb Stunden mit dem Zug nach Thüringen. Lucas hat zwei Goldmedaillen und einen neuen nationalen Rekord im Gepäck und auch sein Freund hat wichtige persönliche Ziele erreicht. Genug haben die jungen Männer nach 48 Stunden des „Durch-Drehens“ aber noch nicht. Solange sich kein Mitreisender beschwert, wird weitergeübt.

H&H Makler