Islamwissenschaftler Prof. Dr. Tilman Seidensticker von der Uni Jena gibt neuen Band heraus

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Die Bilder sind unvergessen: Die brennenden Zwillingstürme des World Trade Center, die riesigen schwarzen Rauchschwaden vor dem blauen Septemberhimmel, die Schuttwolken der einstürzenden Gebäude, die ganz Manhattan stundenlang verhüllen. Auch zehn Jahre nach den Anschlägen al-Qaidas in New York, Washington und Pennsylvania rufen die Terrorattacken, die am 11. September 2001 rund 3.000 Menschen das Leben kosteten, weltweit Entsetzen hervor.

„Praktisch überall auf der Welt konnten die Menschen den Zwillingstürmen beim Einstürzen zuschauen“, erinnert Prof. Dr. Tilman Seidensticker von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Es sei daher kein Wunder, dass für viele Menschen seither der Islam für Gewaltbereitschaft und Radikalität stehe. Dabei ist die Legitimität von Gewaltanwendung unter Muslimen sehr umstritten, wie Seidensticker in dem von ihm herausgegebenen, gerade erschienenen Buch „Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt“ deutlich macht. Der Band umfasst acht Beiträge, die im Rahmen einer Tagung über „Islamische Kontroversen zu Koexistenz und Gewalt“ 2008 diskutiert wurden und nun umfassend ergänzt vorliegen. „Das Buch fokussiert ganz bewusst auf zeitgenössische, innerislamische Kontroversen“, sagt Prof. Seidensticker.

In einem Kapitel stehe etwa die Frage im Mittelpunkt, ob der Dschihad überhaupt zur Gewalt berechtige. Die Bamberger Islamwissenschaftlerin Rotraud Wielandt gibt darin Einblick in die Argumentation gemäßigter Islamisten gegen extrem-islamistische Gewaltanwendung. Demnach dürfe der Dschihad nur um höchster religiöser und ethischer Ziele willen geführt werden. Davon könne aber bei den Terrorakten von al-Qaida nicht die Rede sein – ganz abgesehen davon, dass dabei klare Regeln des Dschihad verletzt würden. „Diese besagen unter anderem, dass nur gegnerische Kämpfer, aber keine Zivilisten getötet werden dürfen; Anschläge auf Zivilisten wie am 11. September 2001 können also, wie auch diese Islamisten betonen, kein Dschihad sein“, so Seidensticker.

Wie unterschiedlich der Koran und die Prophetentradition in Sachen Dschihad ausgelegt werden, beleuchtet ein weiterer Beitrag des neuen Bandes. Mariella Ourghi zeigt darin, dass zwei islamische Theologen aus denselben Quellen völlig entgegengesetzte Schlüsse ziehen. Während für den syrischen Gelehrten Muhammad Said Ramadan al-Buti der Dschihad lediglich der Abwehr von Angriffen dient, geht es nach dem Theologen Abd al-Malik al-Barrak im Dschihad darum, den Islam aktiv mit dem Schwert durchzusetzen – zum Wohle der ganzen Menschheit.

Dass das im Westen weit verbreitete Bild des gewaltbereiten Islam keineswegs mit der Realität übereinstimmt, belegt Prof. Seidensticker in seinem eigenen Beitrag. Wie eine Befragung unter den in Deutschland lebenden Muslimen belegt, hält lediglich jeder 20. erwachsene Muslim Gewalt für ein gerechtfertigtes Mittel, um den Islam durchzusetzen und zu verbreiten. Dagegen lehnten 95 Prozent der Befragten diese Einschätzung ab. „Bei aller Vorsicht, die bei derartigen Befragungen und der Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse über Deutschland hinaus grundsätzlich geboten ist, kann man doch die Muslime, die eine offensive Dschihad-Deutung ablehnen, eindeutig als den Mainstream bezeichnen“, so Prof. Seidensticker.

Wie sich das zweifellos angespannte Verhältnis zwischen der islamischen Welt und dem Westen zukünftig weiter entwickeln wird, ist aber auch für den Experten schwer vorherzusagen. „Die gravierenden sozialen, ökonomischen und politischen Probleme in den islamisch geprägten Ländern werden auch mittelfristig anhalten, und mit ihnen werden die Modelle fortbestehen, die zu ihrer Erklärung und Bewältigung dienen“, so der Jenaer Wissenschaftler. Ein ganz neues Bild der islamischen Welt zeichne sich allerdings derzeit in den arabischen Staaten ab: Eine revoltierende Jugend, an der Frauen einen unübersehbaren Anteil haben und die sich antiautoritär und unideologisch artikuliert. „Es ist eine spannende Frage, wie diese Prozesse die Positionen islamistischer Denker beeinflussen werden.“