Fluse oder Nachdunklung? Textilrestauratorin Marie-Luise Gothe und Präparator Peter Mildner mussten erst einmal die Lupe zur Hand nehmen, als sie der wächsernen Luise Dorothea ihr Spitzenkleid abstreiften. Was im ersten Moment nach Verfärbung oder Schmutz aussah, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als winziges Tattoo: „V. Welch süße Erschütterung“ steht dort auf Französisch in zierlich verschnörkelter Schrift auf der linken Schulter der fein gearbeiteten Wachspuppe (im französischen Original: „V. qu’elle douce secousse“).
Die historische Wachsfigur, die posthum durch den Kunstkämmerer Johann Ludwig Tietz gefertigt wurde, war von den beiden Stiftungsmitarbeitern bereits im vergangenen Jahr zum 250. Todestag von Herzogin Luise Dorothea (1710 – 1767) restauriert worden. Jetzt aber ist es der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Friedegund Freitag gelungen, den eingeritzten, schwarzen Worten ihre Bedeutung zu entlocken. Im Rahmen ihrer Arbeit zu der Gothaer Herzogin war Freitag auf einen Brief gestoßen, den Luise Dorothea am 20. Dezember 1755 verfasst hatte. Der Empfänger: der französische Philosoph Voltaire – „V.“. Mit ihm hatte die Herzogin zwischen 1751 und 1767 in regem Briefkontakt gestanden. 1753 war er der Einladung des Gothaer Herzogspaars gefolgt und hatte mehrere Wochen auf dem Friedenstein verbracht.
In dem Schreiben regt die gebildete Fürstin den Gelehrten an, einen Text zu dem verheerenden Erdbeben von Lissabon zu verfassen. Wörtlich heißt es: „Was, Monsieur, sagen Sie zur tödlichen Katastrophe von Lissabon? Sie lässt die Menschheit erzittern: Welch schreckliche Erschütterung („qu’elle terrible secousse“), die in beinahe ganz Europa zu spüren ist: Dieses Phänomen ist Ihres Gesanges würdig.“ Voltaire kommt ihrer Anregung wenig später tatsächlich mit seinem „Poème sur le désastre de Lisbonne“ nach. Er veröffentlicht den Text übrigens erst, nachdem er den Schluss verändert hat – auf Anraten … Luise Dorotheas.
Auch wenn sich die Tätowierung auf dem Wachsarm mithilfe dieses Briefes recht eindeutig einordnen lässt und offenlegt, wer sich hinter dem ominösen „V.“ verbirgt, bleiben viele Fragen offen: Worauf spielt das Tattoo wirklich an? Hat sich hier Kunstkämmerer Tietz einen schlüpfrigen Scherz erlaubt? Wurde der Satz erst später eingeritzt? Besaß die Herzogin Luise Dorothea tatsächlich eine Tätowierung? Eine Annahme übrigens, die nicht ganz abwegig ist: Durch den Südseefahrer James Cook, der im 18. Jahrhundert Tätowierte aus Tahiti mitgebracht hatte, ist das Tattoo auch in Europa wieder salonfähig geworden. Sogar die hiesigen Königshäuser hatten damals ihren Gefallen wieder daran gefunden.
Bis zum Museumstag am 13. Mai 2018 bleibt noch Zeit, diese Fragen zu beantworten. Dann soll nämlich die winzige Sensation der Öffentlichkeit im Rahmen des Aktionstages „Gotha ist Spitze“ präsentiert werden. Momentan ist die wächserne Herzogin im Ausstellungskabinett des Herzoglichen Museums in „À la mode -Spitzen von Renaissance bis Rokoko“ zu sehen – vollständig bekleidet allerdings. Noch…