Kultureller Aufbruch zu neuen Ufern

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Vorm Tafel-Altar von 1538 gaben sich Philharmonie uns Schloss – vertreten durch Intendantin Michaela Barchevitch und Dr. Tobias Pfeifer-Helke – das Ja-Wort für eine neue gänzlich neue Art der Beziehung zwischen den beiden kulturellen Leuchttürmen Gothas. Foto: Rainer Aschenbrenner

Gotha (red/ra, 28. Juni). „Es wächst zusammen, was zusammengehört.“ Willy Brandt, einst Bundeskanzler, davor Regierender Bürgermeister von (West-)Berlin, wird dieser markante Satz zugesprochen, den er angeblich am Tag nach der Maueröffnung am Schöneberger Rathaus gesagt haben soll.*

„Es wächst zusammen, was zusammengehört“ – das hätte aber auch das Motto einer Pressekonferenz sein können, die jüngst im Herzoglichen Museum stattfand.

Im Saal der deutschen Maler, vor dem weltberühmten Tafel-Altar, hatten dafür die Intendantin der Thüringen-Philharmonie, Michaela Barchevitch, und Dr. Tobias Pfeifer-Helke, der Direktor der Stiftung Schloss Friedenstein, Platz genommen.

„Premiere für „Friedenstein Open Air“
Was sie verkündeten, schien zunächst unspektakulär: 2022 werde es „Friedenstein Open Air“-Veranstaltungen geben.

Nun – „Open Air“-Konzerte auf dem Friedenstein gab es schon 2019, die 2020 als „Schlosshof Open Air“ angekündigt, dann aber wegen Corona ausgefallen waren. Im Jahr darauf fanden sie unter selbem Titel statt – wenn auch mit abgespecktem Programm.

Was dann aber an Details verkündet wurde, ließ aufmerken. Initiiert von der immer vor Ideen übersprudelnden Intendantin der Philharmonie, haben sich die beiden kulturellen Leuchttürme des Landkreises geeinigt, ihre musealen wie musischen Schätze, Kunstwerke und Künste zu vereinen. Nicht institutionalisiert, wohl aber inspiriert – mit dem hehren Ziel, dem Kunst- und Kulturstandort Gotha gemeinsam mehr Strahlkraft zu verleihen.

Das Schloss wird nicht mehr nur betörend schöne Kulisse für die Philharmonie sein, die wiederum mit ihren Konzerten mehr als nur zusätzlicher Besuchermagnet für den Friedenstein sein kann, sein will.

„…was zusammengehört“
Mit Pfeifer-Helkes Amtsantritt 2018 begann ein neues Kapitel in der Geschichte der beiden kulturellen Gothaer Schwergewichte. Das bis dato freundliche, aber auch souveräne wie selbstverständliche Nebeneinander wich immer mehr einem interessierten Miteinander – wie sich dann 2019 bei den ersten Open-Air-Veranstaltungen zeigte.

Und dennoch brauchte es fast vier Jahre – auch geschuldet einem 100 Nanometer** kleinen Virus –, bis ein erstes gemeinsames Konzept entwickelt war.

2022 gibt es die Sommeraktivitäten beider Institutionen daher erstmals gebündelt, wurden zusätzliche Synergieeffekte gesucht und gefunden.

„Zurück zu den Wurzeln“ könnte man dies ebenso benennen, denn schon 1640, bei Gründung des Herzogtums Sachsen-Gotha*** erwähnten die Geschichtsschreiber, dass dabei ein Trompeter eine tragende Rolle gespielt haben solle, wie Pfeifer-Helke erinnerte.

Ein anderes Jubiläum, dessen man 2022 mit einem Festkonzert der Philharmonie gedenkt, ist der 300. Geburtstag von Anton Georg Benda. Der war 1750, noch gänzlich unbekannt, Hofkapellmeister bei Herzog Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg geworden. Er hatte 1774 nach dem Brand des Schlosses in Weimar die Seylersche Theatergesellschaft nach Gotha geholt. Zu der gehörte auch Conrad Ekhof. Der Rest ist Geschichte: Gotha rühmt sich daher, mindestens das älteste deutsche Hoftheater mit eigenem, festem Ensemble zu haben.

Dieses Kleinod ist seit 1996, nachdem die Bühnenmaschinerie wieder instandgesetzt war, die historische Kulisse fürs „Ekhof-Festival“, auf das seither auch das Barockfest folgt.

Philharmonie und Friedenstein haben dieses Jahr erstmals die Termine ihrer jeweiligen Veranstaltungen so koordiniert, dass nichts kollidiert und Interessenten sowohl die zahlreichen Angebote des „Friedenstein Open Airs“ wie auch die des Ekhof-Festivals nutzen können.

Aufbruch in neue Welten
Während dies eher organisatorischen Geschicks bedurfte, bedeutete ein anderes Vorhaben völliges Neuland – auf beiden Seiten: Michaela Barchewitch entdeckte in den Coburger Archivalien Lieder, die Benda und Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg gemeinsam komponierten und die Karl-Maria von Weber arrangiert hatte.

Dieser Fund inspirierte, eine virtuelle Welt zu erschaffen, in der diese Lieder uraufgeführt werden. Dafür startete am 22. Juni deren Einspielung, die an Originalschauplätzen im Friedenstein aufgenommen wurden – dort, wo Benda und der Herzog sie komponiert haben könnten.

Diese digitale musikalisch-historische 360-Grad-Welt soll dann eine Mitte August eröffnenden Ausstellung auf dem Friedenstein bereichern, Besuchern die Möglichkeit gewähren, in diese Zeit vor gut 250 Jahren einzutauchen: „Mich hat diese Idee fasziniert“, sagte eine strahlende Intendantin.

Noch hat die 2022er-Saison nicht begonnen, da plane man schon für 2023, so Barchevitch. Das sei ein Jahr, in dem es für die Stiftung wichtige Themen gebe, für die man schon jetzt gemeinsame Aktivitäten abspreche, die dann auch Grundlage für die Planung des „Friedenstein Open Airs“ 2023 sein werden.

2023 wird zudem aus dem dynamischen Doppel ein flotter Dreier. Die KulTourStadt Gotha GmbH hat Interesse bekundet, in den kreativen Zirkel aufgenommen zu werden – was Schlag- und Strahlkraft ganz gewiss erhöhen wird: „Der Standort Gotha braucht diese Kooperation. Nur so können wir einen gemeinsamen, einen ganz besonderen Effekt erzeugen“, fasste die Intendantin der „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“ den Kern dieses kulturellen Aufbruchs zu neuen Ufern zusammen.

Das 2022er-Sommer-Programm:
1. Juli, 19 Uhr: Ekhof-Festival mit Premiere „Mandragola“, weitere Aufführungen bis 21. August

8. Juli, 20.30 Uhr: Jugendkonzert „Philharmonie unplugged“ mit Thomas Hahn und Band, Kinderchören und der „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

8. Juli: Eröffnung Bromacker Lab (ab 13 Uhr), Konzert von „Stojanov & the Syndicate“ (19.30 Uhr) und Open-Air-Kino „Jurassic World 3“ (22 Uhr)

10. Juli, 15.30 Uhr: Musikmärchen „Der gestiefelte Kater“ mit Sprecher und Bläsern

14. Juli, 19.30 Uhr: Rockoratorium „Emmaus“ für Solisten Chor, Band und „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

15. Juli, 20 Uhr: Operetten-Gala „Belle Époque“ mit der „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

17. Juli, 20 Uhr: Tim Bendzko mit der „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

26. August, 21 Uhr: Eröffnungskonzert 20. Barockfest, „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

2. September, 20 Uhr: Tribute-Konzert „Queen Classical“ mit Band „Merqury“ und der „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

3. September, 20 Uhr: Filmmusikkonzert „Sounds of Hollywood“ mit der „Thüringen Philharmonie Gotha Eisenach“

* Im Mitschnitt der Rede Brandts vom Balkon des Rathauses, wo er zusammen mit Kanzler Kohl und Außenminister Genscher stand, fehlen die berühmten Worte. Selbst in seinen „Erinnerungen“ hat Brandt den Satz nicht erwähnt. Tatsächlich ist der Wortlaut der historischen Aussage in zwei Zeitungsinterviews nachzulesen. Interviews, die vor oder nach der Rede im kleinen Kreis zwischen Tür und Angel geführt wurden. Populär wurde das Zitat erst durch eine Wandzeitung der SPD. Die ließ die Worte ihres Ex-Kanzlers Ende November für die Infokästen der Ortsvereine in einer Stückzahl von 6.000 Exemplaren drucken. Endgültig geadelt wurde das Brandtsche Bonmot auf dem SPD-Parteitag im Dezember 1989 in Berlin. An der Stirnseite des Saales prangten die Worte in großen Lettern. Sie waren das Motto des Parteitages.

**Ein Menschenhaar hat ein Durchmesser von 50.000 Nanometer.

***Sachsen-Gotha entstand aus einer Erbteilung des Herzogtums Sachsen-Weimar und fiel an Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha (der Fromme), den zweitjüngsten Sohn Herzog Johanns III. von Sachsen-Weimar.
 

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