Provenienzforschung in Thüringer Museen

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Sarah-Mae Lieverse. Foto: privat

Erfurt/Gotha (red/ko, 10. Dezeber). Mit juristischem Blick schaut Sarah-Mae Lieverse auf ihren Arbeitsplatz im Sommerpalais Greiz. Dort stapeln sich Akten, Bücher und Karteikarten mit Informationen zu den Sammlungen des Museums. „Alles, was ich anfasse, kann ein Beweis sein“, sagt sie. Und seit diesem Herbst hat sie bereits zahlreiche Objekte und Inventarbücher angefasst.

Die Herkunftsgeschichte dieser Kulturgüter aufzudecken, ist die Aufgabe der Provenienzforscherin und studierten Juristin mit dem sympathischen niederländischen Akzent.

Im Frühjahr hatte der Museumsverband Thüringen e. V. beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg Gelder für einen sogenannten Erstcheck beantragt. Dabei wird untersucht, ob in ausgewählten Thüringer Museumssammlungen Raubgut aus der NS-Zeit vorhanden sein könnte. Noch bis Januar 2021 ist Sarah-Mae Lieverse nun in vier kommunalen Thüringer Museen aktiv, neben dem Sommerpalais Greiz noch im Stadtmuseum Camburg, den Städtischen Museen Nordhausen und dem Museum642 – Pößnecker Stadtgeschichte. Sie forscht in den Museen nach Objekten mit unklarer Herkunft.

Notwendig ist dies, weil zahlreiche Thüringer Museen aus Sammlungen der Frühen Neuzeit und des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind. In dieser Zeit entzogen der Staat und dessen Vertreter verfolgten Minderheiten und sogenannten Staatsfeinden unrechtmäßig Kulturgüter, vor allem während NS-Zeit. Viele dieser Stücke sind heute Teil der Museumssammlungen.

Mit dem Erstcheck unterstützt der Museumsverband seine Mitglieder dabei, ihre Sammlungen aufzuarbeiten. Zwar ist das in den Museen auch mit der Angst verbunden, Objekte zu verlieren. Für Sarah-Mae Lieverse stehen aber vor allem die Vorteile im Vordergrund. „Meine Arbeit gibt den Museen die Sicherheit, dass das, was sie haben, ihnen auch tatsächlich gehört“, erklärt die Provenienzforscherin. Zudem erfahren die Häuser damit etwas über ihre eigene Geschichte und bekommen neue Ideen für Ausstellungs- und Vermittlungsformate, weil sie die Geschichte der Objekte erzählen und in einen größeren historischen Kontext einbetten könnten. Und es sei ein Zeichen von Offenheit und Transparenz gegenüber der Gesellschaft, Raubgut auch als solches zu zeigen. So ließe sich beispielsweise die Bedeutung aufzeigen, die die jüdischen Mitbürger und ihre Kunstsammlungen bis in die 1930er Jahre für das kulturelle Leben Deutschlands hatten – etwas, das heute kaum mehr ersichtlich ist.

Und schließlich könnten die Museen damit die Aufmerksamkeit von Besuchern und Fördergebern stärker auf die Sammlungen lenken, die oft aus dem Blick geraten und für die nur selten Gelder zur Verfügung stehen. Oft wissen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Museen selbst nicht, ob sich in ihren Depots Objekte befinden, die einstunrechtmäßig dorthin kamen, denn die Aufarbeitung der Sammlungen ist mit den aktuellen Ressourcen schlicht nicht immer möglich. Eine Umfrage des Museumsverbands ergab: Gerade in Thüringens kleineren und mittleren Museen gibt es meist keine Person, die ausschließlich für die Pflege und Erforschung der Sammlung zuständig ist, die nicht selten zehn- bis hunderttausend Objekte umfasst. Vielmehr ist das nur eine von vielen Aufgaben der wenigen Mitarbeiter neben Ausstellungskonzeption und Besuchsbetrieb.

Die Recherche nach der Herkunft der Objekte ist nicht einfach, wie Sarah-Mae Lieverse erklärt. Der erste Schritt ist ein Gespräch mit den Museumsmitarbeitern über vermutetes Raubgut. Darauf folgen eine Beschäftigung mit der Museumsgeschichte und eine Sichtung der Quellen, oft handgeschriebene Inventarbücher in altdeutscher Schrift, die aufwendig entziffert werden müssen. Sie geben Aufschluss darüber, wann und von wem ein Objekt in das Museum gebracht wurde. Doch das ist der Idealfall. Mitunter wurde nicht dokumentiert, wie und wann bestimmte Stücke in ein Haus kamen, oder diese Dokumente gingen verloren. Dann sucht Sarah-Mae Lieverse beispielsweise im Stadtarchiv nach weiteren Hinweisen. Schließlich schaut sie sich die verdächtigen Objekte selbst an, recherchiert sie in Datenbanken und ordnet sie ein: grün für die unbedenklichen, rot für diejenigen, die wahrscheinlich unrechtmäßig in die Sammlungen kamen. Gibt es jedoch keine Informationen zur Objektgeschichte, kann auch die Provenienzforscherin nichts tun. Alle Objekte einer Sammlung zu bestimmen, ist kein Teil des Erstchecks, sondern eine jahrelange Aufgabe.

Gelernt hat Sarah-Mae Lieverse all dies in der Praxis, denn bis heute gibt es kaum Ausbildungswege in die Provenienzforschung. Während das meist eine Aufgabe von Kunsthistorikern ist, kam sie über Kunstrecht in das Berufsbild, arbeitete unter anderem für die Kommission für Raubkunst in Europa, war an der Provenienzforschung zur Sammlung Gurlitt beteiligt und schrieb ihre Masterarbeit am Sotheby’s Institute of Art in London über sogenannte „Entartete Kunst“.

Sie ist stolz, Teil dieses Pilotprojekts des Museumsverbands Thüringen zu sein. Es bildet den Auftakt für eine systematische Suche nach unrechtmäßig entzogenem Kulturgut im Freistaat Thüringen. Den nächsten Schritt geht der Museumsverband ab Januar 2021 mit einem von der Thüringer Staatskanzlei geförderten Projekt zur Identifizierung von Objekten mit kolonialer Herkunft. Denn während des Kolonialismus brachten Fürsten und Bürger der thüringischen Fürstentümer und preußischen Gebiete Kulturgüter unter unklaren Umständen aus weiten Teilen der Welt nach Thüringen. Deshalb soll das Projekt den Auftakt für einen Antrag beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste zu unrechtmäßig erworbenen Objekten aus dieser Zeit bilden.

Doch für eine vollstände und langfristige Aufarbeitung unrechtmäßig entzogener Kulturgüter reicht auch das nicht. Neben festen Stellen in den Museen bräuchte es hierfür mehr Fördergelder für die Digitalisierung und digitale Lesbarkeit von Inventarbüchern und Archivbeständen. Zudem sind die Sowjetische Besatzungszeit und die DDR weitere Phasen, in denen Menschen Kulturgüter unrechtmäßig entzogen wurden. Im Kontext der Aufarbeitung von Unrechtsfällen in der deutschen Geschichte ist Provenienzforschung deshalb auch ein politisches Thema.

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