Der mit den Augen spricht

0
1378

Ein dreijähriger Bub in seinem Sitz. Eine dicke Träne kullert die Wange herunter. Seine wachen, fast dunkelbraunen Augen spiegeln Angst. Die Beatmungsmaschine summt leise. Der Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig unter dem Druck der einströmenden Luft. Dünne Ärmchen und Beinchen liegen schlaff neben dem Körper. Kaum wahrnehmbar, die Bewegungen der Finger und um die Mundwinkel. Beruhigend streicht Mama Nicole über Alexanders Kopf und flüstert: „Es passiert dir nichts, dir tut niemand weh.“

Mit knapp drei Lebensjahren hat Alexander eine wahre Odyssee an Arztbesuchen hinter sich. Gesund, jedoch zu früh auf die Welt gekommen, entwickelte er sich anfangs ganz normal. „So richtig wissen die Ärzte bis heute nicht, was der Auslöser war. Aber nach einer viel zu früh verabreichten Impfung ließ Alexanders Beweglichkeit nach. Es folgten tagelange Verdauungsprobleme und eine Staphylokokken-Infektion. Ärzte stellten schließlich fest, dass unser Sohn an einer spinalen Muskelatrophie leidet“, berichtet Nicole Köllmer. Diese spezielle Form von Muskelschwund entsteht, wenn Nervenzellen im Rückenmark und im Hirnstamm absterben. Die Folgen sind Lähmungen und eine verminderte Muskelspannung. Das beeinträchtigt auch die Versorgung lebenswichtiger Organe. Alexander wird daher beatmet, künstlich ernährt, kann nicht sprechen. Eine Logopädin und die Physiotherapie versuchen, den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen. Derzeit gibt es in den USA erste Medikamentenstudien. Bis zu einer Zulassung dürften jedoch noch Jahre vergehen.

Alexanders 28-jährige Mutter und sein Vater  haben – wie jeder 36. Mensch –  diesen Gen-Defekt in sich, übertrugen ihn auf ihren Sohn.

Der Junge beruhigt sich langsam. Er spürt, dass ihm nichts Böses widerfährt. Niemand will schon wieder Blut abnehmen oder verlangt ihm etwas ab, was er nicht möchte. Er spürt, dass er im Mittelpunkt steht. Seine Augen fliegen fast zwischen dem, was hier eben geschieht, hin und her. Zur Oma, die sich die Pflege mit Mama Nicole teilt. Sie, die ihn immer wieder zärtlich berührt, mit ihm spricht, Kontakt aufnimmt, seine Augen sucht, die ihr alle Antworten geben. Und wie seine Augen reden! Große, wache, tiefdunkle Augen. Augen, die strahlen können, böse schauen, skeptisch, ängstlich, neugierig. Dieser kleine Bursche lässt seine Augen  sprechen! Er kann flirten. Fasst er Vertrauen, hört er nicht wieder auf zu zwinkern. Fordert Gäste heraus, will sein Zwinkern erwidert wissen. „Alexander ist geistig voll da, da bin ich froh drum. Der Name passt zu ihm, er ist ein Kämpfer“, sagt Nicole und blickt stolz auf ihren Sohn. Eng ist der Draht zueinander, sie verstehen sich perfekt, auch ohne Worte. Groß ist die Liebe, die ihr Sohn ihr gibt und ihre Motivation. Sie zweifelt nicht daran, sich für ihn entschieden zu haben: „Man wächst mit seinen Aufgaben. Anfangs war es schwer, wir wollten es nicht wahrhaben, irgendwann akzeptiert man es“, sagt Nicole nachdenklich.

Die junge Frau meistert den Alltag mit bewundernswerter Ruhe und Gelassenheit. Die Woche über lebt sie in einem Viergenerationenhaus, mit Mutter und Oma, unter einem Dach. Alexanders Vater Nico ist Fernfahrer und deshalb nur am Wochenende zu Hause. Nicole arbeitet halbtags als Fleischereifachverkäuferin, teilt sich mit ihrer Mutter den Schichtdienst, so dass Alexander 24 Stunden am Tag gepflegt werden kann. Trotz Pflegestufe III ist es derzeit nicht möglich, dem Jungen eine Pflegekraft „anzutun“. Zu groß ist seine Angst vor Schmerzen und Weißkitteln. Mit vier Jahren soll er mal den integrativen Kindergarten in Waltershausen besuchen können. Bis dahin muss die junge Familie noch viel erreichen.

Die nächste große Anschaffung ist ein behindertengerecht umgebauter Bus. Die Regionalstiftung der Kreissparkasse Gotha übernahm einen Teil der Umbaukosten, spendete 5.000 Euro. Dennoch klafft dauerhaft eine große Finanzlücke im Familienbudget: „Ein solcher Bus kostet 50.000 Euro und die Spende war ein wichtiger Beitrag, den wir nicht hätten aufbringen können. Dafür danken wir der Regionalstiftung. Wir müssen in absehbarer Zeit noch das Bad behindertengerecht umbauen und an das Haus einen Lift anbringen, damit wir Alexander sicher nach draußen bringen können. Von der Krankenkasse bekommen wir dafür keine Unterstützung“, bedauert Nicole.

Alexander ist mittendrin und voll dabei, schaut mittlerweile gebannt auf das „KiKANiNCHEN“ und kann sich offensichtlich nicht entscheiden, ob er dem Gespräch lauscht oder sich ablenken lässt. Für ein paar Minuten hängen die Blicke gebannt am Bildschirm. Dann nutzt er doch die Chance zum Zwinkern. Er kann gar nicht wieder aufhören, zu blinzeln. Sein linker Mundwinkel hebt sich leicht, die Augen strahlen und die anfängliche Angst ist wie verflogen.

Die Ärzte gaben ihm höchstens 18 Monate zum Leben.

Jetzt lebt er – auf seine ganz eigene, sehr berührende Art …

(Text und Bild: Livia Zimmermann)

Fliesenstudio Arnold