Eine Nacht auf der MS „Antwerpen“

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Jena (sh) Nach zweieinhalb Stunden ist alles vorbei. Die MS „Antwerpen“ treibt führungslos im eisigen Meer.

Flammen fressen sich durch den Körper des Kreuzfahrtschiffs. Die Passagiere stehen panisch an Deck. Die Rettungsboote müssten jeden Moment zu Wasser gelassen werden. Zumindest ging der Befehl bereits vor einigen Minuten heraus. Kurz vorher hatte der erste Offizier veranlasst, den vorderen Schiffsbereich abzuschotten, was den Tod von etwa 40 Passagieren besiegelte.

„Wir brechen an dieser Stelle ab.“ Wie aus einer anderen Welt klingt Roman Matyushkins Stimme für die Matrosen. Gemeinsam mit seinen Kommilitonen Simon Rulofs und Anna-Lisa Mews hat der Student der Universität Jena in den vergangenen Stunden an einem ganz normalen Sommernachmittag beobachtet, wie sich eine entspannte Seminargruppe in eine aufgebrachte Schiffscrew verwandelte. Doch die Panik ist Programm. Die drei Zuschauer gehören zu einer studentischen Forschungsgruppe, die „Simulationen in interkultureller Kommunikationsforschung und interkulturellen Trainings“ – kurz: SikKFuT – entwickelt und durchführt.

Gemeinsam mit 20 Kommilitonen beschäftigen sich die drei Organisatoren ausführlich mit solchen Trainingsmethoden, die sich auch in der freien Wirtschaft immer größerer Beliebtheit erfreuen. Denn damit lassen sich z. B. Kommunikation und Krisenmanagement innerhalb eines Teams verbessern. „Eine Simulation ist dann gut, wenn die Teilnehmer irgendwann nicht mehr merken, dass es eine ist“, erklärt Prof. Dr. Stefan Strohschneider, Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Uni Jena.

Er hat die Gruppe SikKFuT 2007 gegründet und leitet sie seitdem. Doch die Forschungen führen die Studenten durch. Sie entwickeln neue Simulationen, beschäftigen sich mit deren Auswertung und mit der Frage, wie man sie noch besser und effektiver machen kann. „Für die Studenten ist das eine ganz besondere Denkerfahrung“, sagt Strohschneider.

„Können sie sich doch hier einerseits in der Simulationspraxis ausprobieren und andererseits auch schon einmal lernen, was es heißt, Mitglied einer Forschergruppe zu sein.“ Er selbst sei immer wieder begeistert davon, mit welchem Entdeckerdrang die Studenten ans Werk gehen. „Als Professor verlernt man diese Unbekümmertheit mit der Zeit.“ Da die Mitglieder der Gruppe selbst noch jeden Tag Methoden lernen, seien der Austausch untereinander und das gemeinsame Hinterfragen sehr bereichernd.

Während der Simulation sind es aber die Mitwirkenden, die sich austauschen müssen. Und das am besten effektiv. Die zu bewältigende Aufgabe scheint simpel: Das alte Kreuzfahrtschiff MS „Antwerpen“ schippert derzeit südlich von Neufundland durch den Atlantik und soll in einer Nacht näher an den Zielhafen Miami gebracht werden. Am Anfang bekommt jeder der siebenköpfigen Crew einen Aufgabenbereich zugewiesen: Schiffsarzt, Navigator, Offizier und Ingenieur.

Bezeichnend dabei, dass ausgerechnet um den Posten des Kapitäns Streichhölzer gezogen werden müssen. Informationsmaterial zum Schiff und den einzelnen Zuständigkeiten weist in die Rolle ein. Und dann geht’s los. Der einfache Seminarraum, der trotz eines Schiffsmodells in der Ecke des Zimmers nur bedingt maritimen Charme versprüht, wird zur Kommandozentrale. Simon Rulofs sitzt vor einem Computer und startet das Programm. Seine beiden Kollegen haben sich im Hintergrund platziert und schauen auf die Gruppe. Ab und zu lächeln sie vielsagend.

Jede Minute kommt eine Statusmeldung aus dem Drucker. Darauf sind etwa Schiffsgeschwindigkeit, Kurs und Windstärke verzeichnet. Zunehmend erscheinen aber auch Berichte über technische Probleme, betrunkene Passagiere oder medizinische Notfälle. Auf alles muss die Besatzung reagieren. Wie sie Entscheidungen trifft und schließlich eingreift, das bleibt ihr überlassen. Ob das Ganze in einer Katastrophe endet somit auch.

Erstaunlicherweise funktioniert die Illusion sofort: Der Navigator muss mit einfachen Werkzeugen auf der Seekarte die Richtung kontrollieren. Die Maschinisten vertiefen sich in technische Daten, um zu klären, wie lange es dauert, bis die ausgefallene Schlingerdämpfung wieder funktioniert. Spannend für die Beobachter wird es, wenn sich die Zuständigkeitsbereiche überschneiden.

„Uns geht es bei der Beobachtung nicht darum, psychologische Deutungen einzelner Personen vorzunehmen“, erklärt Roman Matyushkin seine Rolle als Beobachter. „Wir schauen uns eher an, ob und wie die Teilnehmer miteinander kommunizieren und interagieren.“ Gerade eine Krisensituation in einem abgegrenzten Raum ermögliche sehr gute Einblicke. Ziel sei es, die Kommunikation von Gruppen zu verbessern und sie dadurch effektiver zusammenarbeiten zu lassen. Zu den Simulationen gehöre deshalb eine ausführliche Auswertung, während der die Teilnehmer ausschließlich die Teamprozesse reflektieren und aus Fehlern lernen können.

Die einzelnen Besatzungsmitglieder an diesem Nachmittag kennen sich nicht, was das Miteinander erschwert. Aber auch für erfahrene Gruppen ist die Fahrt mit der MS „Antwerpen“ eine Herausforderung. Bisher gab es erst eine Crew, die das Schiff beim ersten Versuch sicher ans Ziel gebracht hat – ein Krisenstab der Polizei.

Anbei ein Foto: Die Studierenden Roman Matyushkin, Simon Rulofs und Anna-Lisa Mews von der Universität Jena führen Simulationen zum Kommunikationstraining durch. (Foto: Jan-Peter Kasper/FSU)