André Wesches Filmbesprechung – „Geliebte Köchin”

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Bild: Gerd Altmann / Pixabay

Film: Geliebte Köchin

Das perfekte Dinner
Jeder Mensch sollte ganz nach seiner Fasson leben dürfen, solange er seinen Mitbürgern nicht schadet. Aber wenn heutzutage Werbespots Getränke anpreisen, die komplette Mahlzeiten ersetzen, damit man sein Leben nicht länger mit diesem lästigen Essen vergeuden muss und mehr Zeit für das Fitnessstudio hat, muss zumindest tiefes Mitleid mit den Konsumenten erlaubt sein. Sie versagen sich einem der größten Genüsse. Eine Mahlzeit kann den Alltag sinnlich bereichern, ihre Herstellung ein meditativer Prozess sein.

Auch deshalb wird die Welt der Gaumenfreuden im Kino regelmäßig in prächtigen Bildern zelebriert. Die Küche wird zum Schauplatz einer großen Liebesgeschichte („Bella Martha“) oder der Annäherung verschiedener Kulturen („Madame Mallory und der Duft von Curry“). Ganz abgesehen davon, dass die Flucht des Helden vor dem Gangster – oder umgekehrt – meistens durch einen Raum voller Töpfe, Pfannen und heißer Fritteusen erfolgt.

Selten aber stand der Prozess der Essenszubereitung so sehr im Fokus einer Spielfilmhandlung wie in „Geliebte Köchin“, dem neuen Film von Tran Anh Hung, der bereits in seinem viel beachteten Erstlingswerk „Der Duft der grünen Papaya“ frisches Obst thematisierte. Von den 135 Minuten des Streifens sitzt das Publikum gefühlte anderthalb Stunden lang in der Küche eines Herrenhauses, in der Lammkarree und Flusskrebse, Steinbutt und Hahnenkämme (jedoch keine Otternasen oder Zaunköniglebern) zur potentiellen Geschmacks-Explosion veredelt werden.

Frankreich 1885. Die famose Köchin Eugénie (Juliette Binoche) steht seit langer Zeit im Dienst von Dodin Bouffant (Benoît Magimel), der als „Napoleon der Gastronomie“ gefeiert wird. Der Gourmet bewirtet regelmäßig eine Runde illustrer Gäste mit komplexen Menüs, die viele Stunden andauern. In der Küche verstehen sich der Hausherr und seine wertvollste Angestellte blind, sie beherrschen alle Traditionen und experimentieren leidenschaftlich gern mit neuen Ideen. Nach Feierabend relaxen Eugénie und Dodin gern noch im Garten, bei einem guten Wein und ein paar Snacks. Und hin und wieder gibt es auch einen Nachtisch in Madames Gemach, wenn ihr der Sinn danach steht. Keine Lust hat sie hingegen auf die Ehe, die ihr der Arbeitgeber regelmäßig anträgt.

Vor exakt 100 Jahren erschien der Roman „Das Leben und die Leidenschaft des Gourmets Dodin-Bouffant“ aus der Feder des Schweizer Schriftstellers Marcel Rouff. Tran Anh Hung, dessen Familie in seinem 13-ten Lebensjahr von Vietnam nach Frankreich emigrierte, ließ sich von dem Stoff zu seinem neuen Werk inspirieren. Der Filmemacher singt ein Hohelied auf die Kunst des Kochens und kommt doch (fast) ohne Musik aus. Und er stellt eine ungewöhnliche Beziehung in den Mittelpunkt, die ein Rätsel bleibt. Ob Liebesszene oder Küchengewimmel, jede Einstellung ist von einer sanften Ästhetik getragen. Das größte Spannungsmoment entsteht, wenn die Serviererin das Mahl transportiert und man sich fragt, ob sie auf der Treppe stolpern wird oder nicht. Trotzdem bleibt das Publikum am Ball, wenn der Prinz von Eurasien zu einer achtstündigen Fressorgie einlädt oder ein junges Mädchen aus dem Dorf einen ganz erstaunlichen Geschmackssinn an den Tag legt und sich als Lehrling empfiehlt.

Natürlich muss alles, was sich in der Filmküche abspielt, auch der Begutachtung durch ein sachkundiges Publikum standhalten. Spitzenkoch Pierre Gagnaire aus Paris hält seine 3 Michelin-Sterne seit 30 Jahren und betreibt etliche Restaurants rund um den Globus. Für den Film kreierte der Verfechter der Nouvelle Cuisine Gerichte, wie sie die Feinschmecker des ausgehenden 19. Jahrhunderts genossen haben mögen. Ein von Gagnaire zusammengestelltes Team bereitete den Drehort so vor, dass die Darsteller auch ohne große Proben jederzeit als Koryphäen des Herds glänzen konnten. Im Film hat der Maestro einen kleinen Auftritt als Küchenchef des Prinzen von Eurasien.

Was sich auf der Leinwand abspielt, ist von großer Schönheit – und einer gewaltigen Dekadenz. Wenn einem das Wasser in Sturzbächen im Munde zusammenläuft, darf man diesen Aspekt nicht aus den Augen verlieren. Dodin Bouffant, seine zumeist sympathischen Freunde und die Küchenfee Eugénie verbringen ihre Tage mit niveauvoller Völlerei oder Gesprächen über selbige. Die Bauern, von denen sie mit allerlei pflanzlichen und tierischen Rohstoffen (garantiert bio, garantiert regional) versorgt werden, müssen mit sehr viel weniger auskommen. Nahrungsergänzungsdrinks waren noch nicht erfunden. Gyms auch nicht und sie waren gewiss nicht vonnöten.

Fazit: Diese Kochshow de luxe fesselt von der ersten bis zur letzten Minute mit grandiosen Bildern, interessanten Charakteren und traumhaften Gerichten. Die soziale Komponente sollte der Zuschauer jedoch überdenken. Für das poetisch-kulinarisch-erotische Meisterwerk würden in jeder Kochshow die vollen zehn Punkte verteilt werden. Ein bescheidener Hinweis zum Schluss: Der Verzehr von Popcorn oder Chips während der Vorstellung ist in diesem Fall ein absolutes Sakrileg.

Genre: Drama / Romanze
Regie: Tran Anh Hùng
Darsteller: Juliette Binoche, Benoît Magimel, Emmanuel Salinger u. a.
F 2023, 135 Minuten
Wertung: 5 von 5 Punkten oder 90 %
Bundesstart: 08. Februar 2024

Autor: André Wesche

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