Das Tagebuch eines Gothaer Soldaten

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Das Jahr 1914 veränderte die Weltgeschichte und brachte das herkömmliche Bild Europas ins Wanken. Der Beginn des Ersten Weltkrieges markiert den Untergang alter Traditionen und  den Aufbruch ins Ungewisse. Immer noch ist diese Zeit, besonders in der regionalen Forschung, ungenügend dokumentiert. Deshalb hat Oberbürgermeister Knut Kreuch im vergangenen Jahr zu einem Geschichtsprojekt „1914 bis 1918 – Gotha vor 100 Jahren“ aufgerufen, in dem sich Schulklassen mit dieser Zeit auseinandersetzen. Dabei sollen Lebensstationen von Bürgern, die Geschichte von Vereinen und  Verbänden sowie Unternehmensgeschichten untersucht werden. Private Geschichten sind dabei genauso wichtig wie Dokumentationen oder Bildsammlungen.

Dem Aufruf von Oberbürgermeister Knut Kreuch folgte innerhalb kurzer Zeit der gebürtige Gothaer Christian Werner. Gemeinsam mit seinem Bruder Norbert hütet er den Nachlass seines Großvaters Friedrich Werner, der umfangreiche Aufzeichnungen sowohl zur Familiengeschichte, der Geschichte Gothas und der Region, als auch zu seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg anfertigte. Die Aufzeichnungen über seine Kriegserlebnisse, die er mit zahlreichen Postkarten, Fotos und Zeichnungen illustriert hat, haben einen Umfang von 470 Seiten. Darüber hinaus hat er umfangreiches Kartenmaterial von den Kriegsschauplätzen in einer weiteren Mappe gesammelt.

Friedrich Werner wurde 1893 in Gotha geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre in der Maschinenfabrik Brand und Grasemann arbeitete er als Kalkulator in der Firma Briegleb, Hansen & Co. Nach Ausbruch des Krieges und der deutschen Mobilmachung am 1. August 1914 erlebte er zunächst, wie die Arbeiter eingezogen werden, die bereits den Wehrdienst absolviert hatten und wie sich viele seiner Kollegen freiwillig meldeten. Gleichzeitig stellte der Betrieb auf die Fabrikation von Kriegsmaterial um. Im Oktober wurde Friedrich Werner für die Infanterie einberufen, am 23. November rückte er beim 6. Thüringer Infanterie Regiment Nr. 95 in Gotha ein. Die Ausbildung erfolgte in Siebleben und später in der Steck-Piano-Fabrik in der Gothaer Oststraße. Die täglichen Übungen wurden auf dem „Flugfeld der Waggonfabrik“ durchgeführt.

Am 23. Januar 1915 wurde Friedrich Werner dann zum Reserve Infanterie Regiment 252 nach Ohrdruf versetzt. Im Tagebuch findet sich kurz danach sein Bericht über den Besuch des Kaisers am 29. Januar 1915, der die Besichtigung des Regiments durchführte. Am 3. Februar wurde der Marschbefehl erteilt, am nächsten Tag ging es zum Ohrdrufer Bahnhof, von dem aus die Fahrt in Richtung russischer Grenze begann. Bei Gefechten in den Masuren erlitt Friedrich Werner Erfrierungen der Füße und wurde nach seinem Rücktransport nach Weimar und der Genesung in Jena im April 1915 zur Reserve entlassen. In Gotha wieder angekommen, fand er sich zu seiner großen Überraschung in der „Gothaischen Zeitung“ vom 19.04.1915 als Vermisster aufgelistet.

Nach kurzer Wiederaufnahme ziviler Tätigkeit in der Gothaer Firma Briegleb wurde er für die Feldartillerie gemustert und im Juli wieder einberufen. In Naumburg erlernte er den Umgang mit Pferden, das Reiten und deren Handhabung unter militärischen Bedingungen und schrieb „Alles war für mich neu, was verstand ich von Pferden!“. Nach der Fortsetzung der Ausbildung in Jüterbog ist er ab dem 9. September 1915 wieder auf dem Weg in den Krieg. Dieser führt ihn u. a. nach Deysow in Galizien und in die Gefechte und Stellungskämpfe an der Strypa. Ende August wird Friedrich Werner während der Kämpfe überfahren und verletzt. Vom Kriegslazarett wird er nach Lemberg gebracht und dann ins Lazarett nach Buch bei Berlin verlegt, wo er bis Mitte Januar 1917 bleibt, bevor er zum Ersatz-Feld-Artillerie Regiment Altengrabow versetzt wird.

Einen Heimaturlaub im März nutzt er in Gotha zur Verlobung mit Clara Sieland, bevor es im Mai zunächst zurück nach Galizien geht. Von dort aus wird seine Einheit nach Frankreich verlegt, wo er ab Mitte Juni in den Kämpfen um Verdun eingesetzt und am 20. September 1917 zum Gefreiten befördert wird. Nach der Teilnahme an den Kämpfen um die „Höhe 304“, der „Abwehrschlacht bei Verdun“, Gefechten in Lothringen, Stellungskämpfen im Elsaß wird Friedrich Werner am 29. Dezember 1917 zum Unteroffizier befördert.

Sein Weg durch den Krieg wird fortgesetzt durch die Teilnahme an der „Schlacht bei Armentiers“ (April 1918), den „Kämpfen an der Lys (April bis Mai 1918), den Stellungskämpfe in Flandern (Mai bis Juli 1918) und den „Kämpfe vor Arras“. Im August reicht er bei seinen Vorgesetzten den Antrag auf Urlaub zur Hochzeit ein und heiratet am 28. September 1918 in Gotha seine Verlobte Clara.

Am 2. Oktober 1918 geht es für Friedrich Werner sofort zurück in den Krieg. Über Köln und Brüssel erreicht er Valenciennes. Nach den letzten Gefechten beginnt für die deutsche Armee letztlich der Rückzug. Detailliert ist auch dieser im Tagebuch beschrieben. Er endet mit seiner Ankunft im Heimatort Gotha, am 19. Dezember 1918.

Die umfangreichen Notizen des 1967 in Gotha gestorbenen Friedrich Werner bieten ein besonderes Zeugnis des militärischen Lebens im Ersten Weltkrieg. Die akribische Anfertigung des Buches und der Kartensammlung gibt nicht nur einen sehr genauen Überblick zu den individuellen Erlebnissen eines Gothaers inmitten der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, sondern widerspiegelt darüber hinaus das Leben und die Leiden dieser schweren Zeit.

(Zum Beitragsbild (Foto: Lutz Ebhardt): Christian und Norbert Werner (v. l.) sind die Enkel des Gothaer Soldaten Friedrich Werner)