Und irgendwann begann die Welt, sich weiter zu drehen …

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Das Attentat auf John F. Kennedy 1963, die erste Mondlandung 1969 oder der Fall der Berliner Mauer 1989 bewegten die Welt. Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium steht als „Schwarzer Freitag“ auch am zehn Jahre danach für Thüringen noch immer in einer Reihe mit diesen weltveränderten Ereignissen. Damals hatte der 19-jährige ehemalige Schüler Robert Steinhäuser 12 Lehrer, zwei Schüler, einen Polizisten und die Sekretärin des Gymnasiums erschossen.

Als Erfurterin habe ich auf die Frage: „Wo warst du am 26. April 2002?“ viele Antworten bekommen und sie auch selbst oft beantwortet. Ich war in der Turnhalle meines Gymnasiums, voller Vorfreude aufs Wochenende, als der Direktor den Sportunterricht störte und uns schulfrei für den Rest des Tages gab. „Eine Schiesserei am Gutenberg-Gymnasium.“ Im ersten Moment war uns die Bedeutung seiner Worte nicht klar. Erst später setzte bei mir und meinen Mitschülern das Verstehen ein, das Entsetzen. Und die Angst um die Freunde, die dort zur Schule gehen, um die Stadt, um das Leben, wie es gewesen war.

Die Schrecken dieses Tages sind mir auch heute noch bewusst. Auch zehn Jahre danach bekomme ich noch immer eine Gänsehaut. Dass das bis dato schlimmste solcher Ereignisse in Erfurt stattfand, in meiner Heitmatstadt, war und ist für mich unbegreiflich. Daran haben auch die Berichterstattungen, Bücher, Reportagen und Dokumentationen nichts geändert, die wie eine Flut über uns hereinbrachen und Erfurt weltweit bekannt machten.

Ob die nach dem Amoklauf beschlossene Thüringer Schulreform mir heute als Schülerin mehr Sicherheit geben würde, ist schwer zu sagen. Zuvor waren Schüler wie Robert Steinhäuser, die das Abitur nicht bestanden, ohne Abschluss aus der Schule entlassen worden. Diesen Schülern soll die Einführung des verpflichtenden Abschlusses, den nun jeder Gymnasiast in der 10. Klasse ablegen muss, dort eine Perspektive bieten, wo er vor zehn Jahren keine mehr gesehen hat.

Heute geht mein 17-jähriger Cousin aufs Gutenberg-Gymnasium. Er war damals sieben Jahre alt, verstand nicht, was da passierte, verband keine eigenen Emotionen und Bilder mit diesem schrecklichen Ereignis. Für ihn ist die Schule einfach seine Schule, da gab und gibt es keine negativen Hintergedanken. „Sonst hätten wir die Schule ja nicht ausgesucht“, sagt er. Nur jedes Jahr am Jahrestag wird es ein bisschen stiller, bedächtiger, die Lehrer fangen an zu erzählen. Aber im Alltag ist es kein Thema – zumindest für ihn und seine Mitschüler.

Er geht ohne Angst in die Schule. Ich vermochte das damals nicht. An dem Wochenende nach dem Amoklauf war die Welt in Erfurt anders. Wir riefen unsere Freunde an, in der Hoffnung, ihre Stimmen am Telefon zu hören. Wir versuchten uns abzulenken, aber dafür gab es keine Chance. Und als wir am Montag zurück in die Schule sollten, wollten wir im Bett bleiben, weil uns klar war, dass es auch dort nur ein Thema geben konnte. Wir wollten uns vor der Realität verstecken, wir suchten Antworten, die es nicht gab. Wir wollten unsere Unbefangenheit zurück, unsere Leichtigkeit, unsere Lebensfreude.

In den folgenden Wochen ging ich zu Schweigeminuten, zu Trauerfeiern, zu Gesprächen. Ich hatte das Gefühl, die ganze Stadt wächst zusammen. Kaum etwas anderes als diese Gemeinschaft war in dieser Zeit von Bedeutung für mich. Und irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, begann die Welt, sich weiter zu drehen…

Heute leben wir unser Leben, der Amoklauf vor zehn Jahren ist kein alltägliches Thema mehr. Die Trauer steht nicht mehr im Vordergrund, auch für das Gutenberg-Gymnasium und die Stadt Erfurt. Anstatt einer offiziellen Trauerfeier entschied man sich für eine Gedenkfeier in der Schule und am Abend einen Gottesdienst in der Andreaskirche. „Man will Erfurt und auch die Schule nicht mehr nur damit in Verbindung bringen, es soll wieder positive Gedanken geben“, sagte Manfred Ruge bereits drei Jahre danach. Und wenn ich mir meinen Cousin anschaue, bin ich froh, dass er ohne ein schlechtes Gefühl im Bauch das Haus betreten kann, in dem 16 Menschen starben.

Für mich, für meine Freunde und all diejenigen, die auch nach zehn Jahren bei dem Namen „Gutenberg-Gymnasium“ die Trauer von damals fühlen, hätte ich mir eine Feier gewünscht. Und auch für die, die diesen schwarzen Tag nicht miterleben mussten, die die Gemeinschaft unserer Stadt nicht erleben konnten, würde ich es mir wünschen. Als Mahnmal, als Abschreckung, als Lehre, als Erinnerung… Auf dem Domplatz, wie damals.

Wenn ich heute an den 26. April 2002 denke, stehen nicht der Täter oder seine Beweggründe im Mittelpunkt. Auch die Bilder spielen nur noch eine marginale Rolle. Was geblieben ist, ist das Gefühl der Unvorhersehbarkeit, der Machtlosigkeit, mit der wir solchen Situationen gegenüber stehen, die immer wieder scheinbar aus dem Nichts kommen. Weder die Schulreform, noch die neue Spezialausbildung der Polizei oder die Verschärfung des deutschen Waffengesetzes werden daran etwas ändern können. Das Gefühl wird bleiben, egal wo ich bin.

H&H Makler