Fettes Säggschen oder: Woran die Stones alles Schuld sein sollen…

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Klaus Renft bei einem Auftritt 2003. Foto: Thomas Kraft (CC BY-SA 2.5)

Gotha, 3. Mai 2022. Ein Jahr vor seinem Tod 2006 hatte ich Gelegenheit, in Jena Klaus Renft, André Herzberg, Olaf Leitner* und Michael Rauhut** bei einem langen und eherzerwärmenden Podiumsgespräch in Jenas Szene-Treff „Café Wagner“ zu treffen.
Am 30. Juni wäre Renft 80 Jahre alt geworden. Dieser Tage geht es im KUKUNA in Bad Tabarz um ihn (12. Mai) und auch André Herzberg ist dort (13. Mai).
Aus dem Grund – und voller Nostalgie – mein 17 Jahre alter Text.
(Rainer Aschenbrenner)

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Fettes Säggschen oder: Woran die Stones alles Schuld sein sollen…
Vor vierzig Jahren. Rotzige Ami-Burschen, die als Rolling Stones noch rotzigeren Rythm & Blues machen, kommen nach Westberlin. Spielen in der Waldbühne vor 21.000 frenetischen Fans. Nach einer halben Stunde und sechs Songs verschwanden sie ins vornehme „Gerhus“-Hotel im Grunewald. Das frustriert. 2.000 machen Kleinholz aus den Bänken und dem eigentlich anheimelnden Ort. Mit weitreichenden Folgen. Wie einem Podiumsgespräch in Jenas Szene-Treff „Café Wagner“. Vierzig Jahre danach.

Waren die Stones ein Sinnbild für die Rebellion der Jugend in Ost und West? Das fragten sich Musikwissenschaftler Michael Rauhut, der Musikjournalist Olaf Leitner sowie Musiklegende Klaus Renft und Sänger-Schauspieler-Schriftsteller André Herzberg. Und das zog mehr als 100 Leute in den eher winzigen Zuschauer- und Gastraum in Jenas Zentrum.

„Ich fand Mick Jagger eigentlich nur sexy, wie der so über die Bühne fegte. Es ist mehr die Attitüde, nicht die Musik.“ 10 Jahre war André Herzberg, als die Waldbühne zerlegt wurde. 1981, als er seine zweite Band namens „Pankow“ gründete, gehörten Songs der Rollenden Steine zum Repertoire, „weil unser Gitarrist (Jürgen Ehle – R.A.) ein tierischer Stones-Fan war.“ Herzberg gibt freimütig zu, seit der Schul-Zeit mehr auf harmonischen Klängen wie denen von den „Beatles“ gestanden zu haben. Trotzdem coverte Pankow schon beim ersten Auftritt Jagger & Co. – in Anwesenheit des Chefs der staatlichen Plattenfirma AMIGA, Rene Büttner. Die hatte gerade eine Lizenz-LP von ihnen auf den Markt gebracht. Wie alle anderen „West“schallplatten auch eine klassische „Bück-Ware“, weil unterm Ladentisch gehandelt und deshalb meist nur über Beziehungen zu bekommen.

Gerade einmal zwei Jahre vorher endete die Verbannung der Stones aus dem offiziellen DDR-Musikbetrieb. Radio DDR 2, quasi ein Bildungsprogramm damals, brach den Bann, der 1965 ausgesprochen wurde. Mit dem Feature „Bettlers Bankett“ – frei nach dem Stones-Song „Baggers bankett“ – wurde das wenige Monate nach dem Waldbühnen-Desaster ausgesprochene Stones-Verbot aufgehoben.

Wer es vor diesem Tag trotzdem wagte, die auch im Osten unglaublich verehrte Band zu spielen und erwischt oder verpfiffen wurde, der riskierte zwar nicht Kopf und Kragen. Aber die Spiel- und Auftrittserlaubnis. Und damit seine Karriere.

„I can’t get no satisfaction“ – das galt aber nicht nur im Falle der Rollenden Steine. Generell drohte Ungemach all jenen, die vom politischen Kurs abzuweichen drohten. Wolf Biermann und Manfred Krug, Nina Hagen und Vroni Fischer, Angelika Domröse und Winfried Glatzeder – die Liste der ausgebürgerten, der mehr oder minder freiwillig gegangenen Künstler ist lang. Das wissen auch die vier im Podium. Aber sie behielten dies für sich; darauf kam die Sprache im „Café Wagner“ nicht. Sei’s drum.

Andererseits: Es war ja auch viel unterhaltsamer und schöner, in den Erinnerungen zu schwelgen. Das tat das Alte-Herren-Quartett auf der Bühne in aller Ausgiebigkeit.

„I can’t get no satisfaction“ – am 11. und 12. Mai 1965 in Los Angeles von den Stones aufgenommen und seit 5. Juni im Äther, wird seither von der rebellierenden, unangepassten Jugend schlechthin vereinnahmt. In Ost wie West. Da war sich die illustre Runde schnell einig. Doch war es tatsächlich Fanal der Rebellion, sollte es das je sein?

Sicher ist: das Westberliner Waldbühnen-Desaster vom 15. September 1965 eine Menge aus. Im Westen beschränkte man sich zunächst darauf, „das soziologische und kulturelle Phänomen zu studieren“, erinnerte sich Leitner. Der Augenzeuge des Waldbühnen-Spektakels war mit seiner Band „Team Beats“ („…ohne Gage, nur für den Ruhm…“) im Vorprogramm der Stones aufgetreten. 1968 ging er zum RIAS als Musikredakteur und hob dort u. a. die legendäre Reihe „Rock over Rias“ aus der Taufe.

Anders gleich nebenan, in der Hauptstadt der DDR. Da kam manchem Kultur- und Parteifunktionär „Die Schlacht in der Waldbühne“, wie BILD am nächsten Tag titelte, zupass.

Sehr sogar. Denn am 17. September geschah Unglaubliches: Eben jenen Artikel druckte das „Neue Deutschland“, Zentralorgan der SED, ab. Wort für Wort erst- und einmalig in der Geschichte des ND stand da ein kompletter Artikel aus Springers BILD. Und in Leipzig durfte die LVZ gar davon schreiben, es habe „eine neue Kristallnacht in der Luft“ gelegen.

Was wie aus einem Leitartikel des Nazi-Blattes „Stürmer“ klang, sei nur deutlichster Ausdruck dafür gewesen, „dass die Zeit eines relativ entspannten Umgangs der Staatsmacht mit Rockmusikern und deren Fans“ in der DDR zu Ende gegangen wäre, schätzt Rauhut ein.

Den politischen Schlussstrich zog dann das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember. „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?“ Worte des damaligen SED-Chefs Walter Ulbrichts: „Ich denke Genossen, mit der Monotonie des ,Jay, jeh, jeh’, und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.“

Eine klare Botschaft. Doch auch schon zuvor bekam Klaus Renft widerholt Spielerlaubnis entzogen. Er erinnert sich: „Sie können Ihre Instrumente verkaufen. Das Spielverbot gilt lebenslang“, höhnte damals der linientreue Leipziger Kulturnik. Wie man weiß, irrte der Mann: „Die DDR gibt es nicht mehr. Uns schon…“, lautete daher der späte Triumph von Renft. Was die wenigstens wussten – er hatte in Jena ein Heimspiel, war hier 1942 geboren worden.

Vordergründig wurde damals geahndet, dass Renfts Band „The Butlers“ Stones-Titel spielte. Nicht, um wider den Stachel zu löcken. „Das war einfach nur geile Musik“, grinst Renft. Um den besonderen Sound hinzubekommen, mussten die Butlers tricksen. Was bei den Stones ein Verzerrer leistete, hatte ein kleines Kofferradio zu bringen. „Das haben wir an die Anlage gestöpselt, dann volle Pulle aufgedreht, ein Mikro davor gestellt – das klang dann wirklich verzerrt. Und wie!“

Improvisation a la DDR. Wie bei den Texten. Denn mit dem Englisch war es auch nicht weit her. Selbst nicht bei Andre Herzberg. „Auch wir haben Songs gecovert, ohne ein Wort verstanden zu haben. Nur eben so ungefähr…“ Und deshalb habe es dann eher nach „Fettes Säggschen“ geklungen, als der berühmt-berüchtigte Stones-Hymnus angesagt wurde.

Das Publikum im „Café Wagner“ johlt begeistert. Junge sind da, meist Studenten. Die bestaunen, beäugen die Vier auf der Bühne. Wie lebende Fossilien. „War echt krass damals, die DDR“, sagt Bert und wiegt bedächtig sein Rasta-Lockenkopf. Er studiert schon eine ganze Weile; „Politikwissenschaften, auch BWL. Und so was…“ Aber von den Zeiten in jenem Land, in denen auch seine „Alten“ aufgewachsen sind, wisse er kaum was.

Die älteren Semester im Rund könnten zur Generation seiner Eltern gehören. Viele genießen diese besondere Zeitreise in ihre Erinnerungen: in abgewetzten Lederjacken, das Jeanshemd leger über der Hose tragend und auf Jesuslatschen herbeigeeilt. Nicht im Zorn geht der Blick zurück. „War schon eine irre Zeit, wie wir damals abgehottet haben.“ Klaus, Anfang 50, intoniert andeutungsweise die ersten Takte von Satosfaction. Augen leuchten, Hände pochen den Takt auf die abgewetzten Holztische.
Zurück in der Jugend, der ach so fernen. Der ach so schönen.

Alles nur Fiktion, das mit der Rebellion? „Eigentlich schon“, sagt Rauhut. Die anderen nicken beipflichtend. Wie’s scheint, altersweise. Mick Jagger, der auf der Bühne den exaltierten Ober-Revoluzzer gebe, sei „eigentlich ein ganz angepasster“, weiß Leitner. Von Alexis Corner, der weißen Blues-Legende, habe er sein musikalisches Rüstzeug geholt. „Das schauspielerische Talent, den Exibitionisten in ihm, gab es von Anfang an.“ Rebellion doch nur als Attitüde… Wenn überhaupt einer bei den Stones ein Rebell sei, dann Keith Richards. Doch der tauge halt nicht zum Vorzeige-Provokateur. Also doch: „I can’t get no satisfaction“.

Die Luft ist vom Rauch unzähliger Zigaretten zum Schneiden. Die Anlage brummt und knistert, „stammt wohl noch aus DDR-Zeiten“, grummelt Rauhut.

Fährt fort und jäh zwischen die aufkeimende verklärende Sentimentalität: Wirklichkeit war eben auch anders. Denn zu Herzbergs Zeiten habe sich die ganze Situation zwar wieder entschärft. Zuvor durfte Musik der Rolling Stones weder im Radio gesendet, noch von den Bands nachgespielt werden. Erst 1979 endete dieses offizielle Verbot.

Schier unglaublich, aber wahr: Beinahe hätte es sogar 1989 ein Konzert in Ost-Berlin mit ihnen gegeben. Honeckers Kürzel stand schon befürwortend unter einem entsprechenden Papier. Doch der Rest ist Geschichte.

Plötzlich ist auch die Runde im „Café Wagner“ zu Ende. Klaus Renft signiert die letzten fünf Exemplare seiner Biographie. André Herzberg ist schon verschwunden. Leitner und Rauhut schwatzen mit ein paar Sandalen-Trägern. Über die gute, alte Zeit.
Tja, es war einmal…

(Rainer ASCHENBRENNER, „Freies Wort“, 8. Juni 2005)

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*Olaf Leitner – geboren in Berlin, studierte Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaftern, war von 1968 zunächst als freier Mitarbeiter, dann zwischen 1974 bis 1992 fest angestellter Musikredakteur, dann Redakteur Kulturpolitik beim RIAS und von 1992 bis 1994 Ressortleiter Kultur bei Radio Brandenburg/ORB. Er lebt jetzt als freier Autor und Kolumnist in Nordfriesland. Leitner hob u. a. 1975 die Sendereihe „Rock over Rias“ aus der Taufe, die in der DDR begeistert aufgenommen wurde: zwischen Weihnachten und Neujahr und in den Sommerferien gab es nachts bis zu sechs Stunden Sendezeit, um ein differenziertes Rockmusikprogramm abzustrahlen. Es war gespickt mit Informationen, Hintergrundberichten, Live-Interviews mit Studiogästen. Es wird berichtet, dass kurz vor den Sendeterminen in der DDR ORWO-Produkte ausverkauft gewesen sein sollen. Alle brauchten Leerkassetten und Bandmaterial, um mitzuschneiden, was die Rekorder und Bandmaschinen hergaben…

**Michael Rauhut
1963 in Altdöbern geboren, 1984 bis 1989 Studium der Musik- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1993 Promotion zum Dr. phil. mit der Arbeit „Beat in der DDR 1964 bis 1972. Politische Koordinaten und alltägliche Dimensionen“, 1993 bis 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Theorie und Geschichte der populären Musik am Musikwissenschaftlichen Seminar der HUB, zahlreiche Buch-Veröffentlichungen.

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